Um politisch handlungsfähig zu sein, muss sich Lula mit Bolsonaros politischen Verbündeten einigen.

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Die Präsidentschaftswahl in Brasilien am Sonntag beendet einen turbulenten Wahlkampf. Es war ein Duell zwischen zwei Populisten. Einem aus dem extrem rechten und einem aus dem linken Feld. Der Sieger heißt Luiz Inácio Lula da Silva, kurz Lula. Der Ex-Präsident hat bereits zwei Amtszeiten hinter sich und gehört zur linksgerichteten Arbeiterpartei. Laut Politologinnen stimmte aber ein großer Teil seiner Wählerinnen und Wähler nicht primär für Lula, sondern gegen seinen Kontrahenten, den amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro.

Bolsonaros Mängel spielten Lula in die Hände und ermöglichten ihm, trotz sehr vager Wahlversprechen zu gewinnen. Für gewöhnlich hätte der Verlierer seine Schlappe am Tag nach der Wahl bereits anerkannt und dem Sieger gratuliert. Doch Bolsonaro ist weder ein gewöhnlicher Kandidat, noch war er ein gewöhnlicher Präsident. Sein Wahlkampf war ein Stresstest für die brasilianische Demokratie.

Knappstes Ergebnis

Der ehemalige Hauptmann streute wiederholt unbelegte Zweifel am elektronischen Wahlsystem und beschuldigte den Obersten Gerichtshof, dem auch die oberste Wahlbehörde unterliegt, der Parteilichkeit zugunsten Lulas. Er sorgte dafür, dass das Militär in den Prozess der Stimmenüberprüfung einbezogen wurde. Im Endspurt seiner Kampagne hatte Bolsonaro immer wieder, ohne Belege, beklagt, er werde durch eine ungerechte Aufteilung von Werbeslots im Rundfunk benachteiligt. Analysten zufolge bereitete der Präsident damit den Weg, um ein ungünstiges Wahlergebnis nicht anzuerkennen.

Die hauchdünne Niederlage könnte daher noch relevant werden. Auf die Wahl am Sonntag folgte das knappste Wahlergebnis seit Ende der Militärdiktatur. Lula erzielte 50,9 Prozent der Stimmen, während Bolsonaro 49,1 Prozent einheimste. Bolsonaro ist der erste brasilianische Präsident, der die Wiederwahl verloren hat. Dennoch erkennen wichtige Anhänger des Präsidenten wie der Chef der Abgeordnetenkammer, Arthur Lira, das Ergebnis an. Zudem lassen die brasilianischen Institutionen wenig Raum dafür, dass Bolsonaro ohne eine Mehrheit der Stimmen im Amt bleibt. Lulas Sieg bedeutet also ziemlich sicher ein Ende von Bolsonaros Präsidentschaft, aber kein Ende des "Bolsonarismo".

Bolsonaros Partido Liberal (PL) hat in den Wahlen zum Kongress und zur Abgeordnetenkammer am 2. Oktober die Mehrheit erzielt. Zudem wählten wichtige Staaten wie São Paulo Gouverneure, die Bolsonaro nahestehen. Auf dem neugewählten Lula lastet der Druck, sich mit den Anhängern Bolsonaros zu einigen. Besonders in der Bestellung seines Kabinetts wird es für den Chef der Arbeiterpartei eine Herausforderung sein, die richtigen Allianzen zu schaffen. Allein mit Verbündeten im linken Block kann Lula nicht politisch handlungsfähig werden.

Wird Lula seine politischen Ziele durchsetzen können? Und erkennt Bolsonaro das Ergebnis an? Es antwortet Andreas Nöthen, Journalist, Autor und Brasilien-Experte.
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Sorge um Zugeständnis

Bereits die Bestimmung seines Vizepräsidenten Geraldo Alckmin sollte Lula bei Landwirten, Unternehmern und konservativen Katholiken voranbringen. Allerdings sorgte der ehemalige Präsident während seiner Kampagne immer wieder für Aufsehen mit einer Nähe zu sozialistischen Machthabern. Lula sagte im vergangenen Jahr: "Warum darf Angela Merkel 16 Jahre im Amt bleiben und Daniel Ortega nicht? Was ist die Logik? Ich kann nicht verurteilen, was in Nicaragua passiert ist." Die Aussage sorgte besonders unter konservativen Politikerinnen und Politikern für Empörung und verstärkte unter Lulas Gegnern das Bild eines autokratischen Sozialisten. Nun muss er einen Weg finden, die Wogen zu glätten und die Mitte der politischen Landschaft für sich zu gewinnen.

Für eine gelungene Übergangsregierung bis zu Lulas offizieller Ernennung am 1. Jänner muss Bolsonaro auch die Niederlage bei der Wahl anerkennen. Er schweigt derzeit aber noch. Dazu sagte Lula am Sonntag: "Ich würde gerne nur glücklich sein, aber ich bin glücklich und halb besorgt. Denn ab morgen muss ich mir Gedanken darüber machen, wie wir dieses Land regieren werden. Ich muss wissen, ob der Präsident, den wir besiegt haben, einen Übergang zulassen wird."

Wahlkampf der Vorwürfe

Es besteht auch die Sorge, dass Bolsonaros Wählerschaft das knappe Ergebnis nicht akzeptiert. Immer wieder hatte der Amtsinhaber Lula als "Lügner" oder "Kriminellen" bezeichnet, was die Bevölkerung stark polarisiert hatte. Bolsonaro verwies bei jeder Debatte darauf, dass Ex-Präsident Lula eine 19-monatige Haftstrafe wegen Korruptionsvorwürfen hinter sich hat und nicht in allen Anklagen freigesprochen wurde. Lula beschuldigte Bolsonaro wiederum, falsch mit der Corona-Pandemie umgegangen zu sein und daran schuld zu sein, dass Brasilien das Land mit den zweitmeisten Corona-Todesfällen ist.

Ein weiterer Streitpunkt zwischen beiden Kandidaten war der Hunger. Bolsonaro bestritt, dass es in Brasilien ein Ernährungsproblem gebe. Lula, behauptete Bolsonaro sei schuld am wachsenden Hunger. Einer aktuellen Studie zufolge leiden 33 Millionen Menschen im Land an Hunger oder Ernährungsunsicherheit, 2020 waren es noch 19 Millionen. Der Chef der Arbeiterpartei bezeichnete die Bekämpfung des Hungers als wichtigstes Ziel seiner Präsidentschaft. Konkrete Pläne, wie er das bewerkstelligen will, lieferte er aber nicht.

Reparatur statt Fortschritt

Als Lula 2002 zum ersten Mal eine Wahl im Land gewonnen hatte, waren seine Wahlversprechen mutiger, vielleicht großmütiger: Er zeichnete Brasilien als große Marktwirtschaft, als globalen Player, als gesellschaftlich liberalen Staat. Unter Lulas Präsidentschaft, die von 2003 bis 2011 dauerte, war Brasilien zeitweise die siebtgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, mehr als 20 Millionen Menschen schafften es aus der akuten Armut heraus, die Mittelschicht wuchs und Rio de Janeiro erhielt die Zusage für die Olympischen Sommerspiele 2016, die zum ersten Mal in Südamerika ausgetragen wurden.

Sozialprogramme wurden auch mithilfe der großen Nachfrage an Brasiliens Rohstoffen, wie Eisenerz, Erdöl, Soja oder Rindfleisch, gefördert. Nun muss Lulas einstige Zukunftsrhetorik nach fast drei Jahren Pandemie, den Folgen des Ukraine-Kriegs, wachsender Armut und einem drohenden Kollaps des Ökosystems im Amazonasbecken der Wiedergutmachung weichen. Anstatt über den Fortschritt des Landes wie noch vor zehn Jahren, spricht Lula nun von dessen Reparatur. (Isadora Wallnöfer, 31.10.2022)