Robert Harris hat gut lachen: Sein aktueller, im September in England erschienener historischer Roman "Königsmörder" ist bereits der bisher erfolgreichste.

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Der Interviewtermin mit Robert Harris war lang vereinbart, alle Vorbereitungen für einen Besuch in seinem lieblichen Dorf westlich von London getroffen – da kündigte Premierministerin Liz Truss ihren Rücktritt an. Weil die aktuelle Politik alle Aufmerksamkeit beanspruchte, musste das Gespräch über das neue Werk "Königsmörder" des Bestsellerautors verschoben werden.

Wer hätte dafür mehr Verständnis als der politisch hochinteressierte Schriftsteller von weltweit millionenfach verkauften historischen Romanen ("Vaterland", "Enigma", "München"), in denen sich immer wieder die Zeitgeschichte spiegelt? Er verdaddele "zu viel Zeit, in der ich eigentlich arbeiten sollte", beim Lesen von Twitter-Mitteilungen, beichtet der 65-Jährige während des doch noch zustandegekommenen Gesprächs via Zoom.

Immerhin brachte ihm die Plattform auch die Anregung zum Schreiben von "Königsmörder", nämlich einen Hinweis auf die längste Menschenjagd des 17. Jahrhunderts. Die Hinrichtung von König Charles I., die spätere Wiederherstellung der Monarchie mitsamt ihrem Rachefeldzug gegen jene, die das Leben des Königs auf dem Gewissen hatten – "das faszinierte mich", erzählt Harris, "und ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn mich ein Stoff interessiert, geht das vielen anderen auch so".

STANDARD: Mister Harris, drei Premierminister binnen zweier Monate – was ist eigentlich mit Ihrem Land los?

Harris: Vieles läuft schief. Aber wir wollen auch festhalten, was funktioniert. Zum Beispiel der Unterschied zwischen dem Staat und der Politik. In all der politischen Aufregung der vergangenen Wochen stellte der König einen Felsen der Stabilität dar. Stellen Sie sich einmal vor, wie das in Frankreich oder den USA aussähe, wo der Präsident eine Monarchen-ähnliche Stellung hat. Da ist mir unser System doch wesentlich lieber. Es geht ja auf die Glorious Revolution des späten 17. Jahrhunderts zurück; die Sprache, die in der ersten Amtswoche von Charles III. zu hören war, stammte aus diesem Jahrhundert. Ich glaube, der Übergang von der Queen zu König Charles hat die britische Monarchie bestätigt. Aus uns wird so schnell keine Republik.

STANDARD: Und die Politik?

Harris: Alles sehr peinlich und verwirrend, kein Zweifel. Es ist doch so: Mit der Brexit-Entscheidung von 2016 hat das Land einen schlimmen Fehler begangen, alles Weitere ergibt sich daraus, also der Zusammenbruch der regierenden Konservativen, die Handelsprobleme, das verlangsamte Wirtschaftswachstum. Irgendwann wird das Königreich wieder dem Binnenmarkt und der Zollunion der EU beitreten müssen. Die Leute sind ja nicht dumm. Die sehen auch, dass der Brexit nicht funktioniert. Ich finde ja, dass Johnsons Vorgehen einen großen Vorteil hat: Niemand kann hinterher behaupten, der Brexit sei nicht versucht worden.

STANDARD: Beim einen oder anderen Brexiteer ist von "Sabotage" durch böse Proeuropäer die Rede.

Harris: Ja ja, aber das nimmt doch niemand ernst. Ich bete ja dafür, dass der Brexit funktioniert. Einstweilen sprechen aber alle Anzeichen dagegen. "Fakten sind sture Wesen", hat der zweite US-Präsident John Adams gesagt. Das sehe ich genauso.

STANDARD: Ihr neues Buch "Königsmörder" beschreibt die Jahre zur Mitte des 17. Jahrhunderts in England und Amerika: den englischen Bürgerkrieg, die Republik unter Oliver Cromwell, die Wiederherstellung der Monarchie 1660 und die Folgen.

Harris: Ich konnte noch nie begreifen, warum wir nicht mehr hören über den Bürgerkrieg. Da sind ganz außergewöhnliche Charaktere am Werk, allen voran Charles I. und Cromwell. Die Hinrichtung eines Königs, die Errichtung einer Republik, die elf Jahre lang dauerte, und das zur Mitte des 17. Jahrhunderts, lange vor den Revolutionen in Amerika und Frankreich – das ist doch sensationell!

STANDARD: Welche Reaktion hatten Sie auf das Buch, seit es Anfang September in England erschien?

Harris: Es sind in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe ausgezeichneter Sachbücher über den englischen Bürgerkrieg erschienen. Es gab aber keine Filme oder Fernsehserien oder eben Romane wie meinen. Das Interesse ist vielleicht auch deshalb sehr hoch. Es ist nach diesen ersten zwei Monaten mein am besten verkaufter Roman neben "München". Zu den Lesungen kommen Hunderte von Leuten.

STANDARD: Wie reagieren die denn? Werden Sie verdächtigt, Propaganda für die eine oder andere Seite zu machen?

Harris: Ach nein, die Reaktionen sind sehr freundlich. Ich polemisiere ja auch nicht für die eine oder andere Seite. Vielmehr scheint es mir, als wollten viele Leuten wirklich in dieser fiktionalen Weise etwas über eine ungemein spannende Epoche unserer Geschichte lernen.

STANDARD: Wo liegen Ihre Sympathien?

Harris: Meine Kenntnisse waren doch recht begrenzt. Instinktiv fand ich natürlich, das Parlament sollte mehr Kompetenzen haben, um den König in Schach zu halten. Ich hielt mich also für einen Roundhead ...

STANDARD: ... wie die calvinistischen Anhänger Cromwells wegen ihrer Topffrisuren genannt wurden.

Harris: Aber je länger ich in die Materie eindrang, desto deutlicher wurde mir: Diese Puritaner lagen mit ihrer sauertöpfischen Haltung gegenüber allem Vergnügen quer zur englischen Natur. Wir sind doch ein eher hedonistisches Volk. Ich spüre das an mir selbst: Ich glaube an die Freiheit, sich amüsieren zu dürfen.

STANDARD: Ihr Buch trägt auf Englisch den Titel "Act of Oblivion", was sich wohl am besten als "Gesetz des Vergessens" übersetzen ließe. Auf Deutsch heißt es etwas plump "Königsmörder" – wird diese Brandmarkung dem komplexen Thema gerecht?

Harris: Ich richte mich bei den Übersetzungen nach den Empfehlungen meiner ausländischen Verlagsfachleute, die kennen schließlich ihren Markt viel besser als ich. Übrigens sind ja schon mehrere meiner Bücher auf Deutsch mit anderen Titeln erschienen als im Englischen.

STANDARD: Hatte die im jahrelangen Bürgerkrieg fürs Parlament siegreiche Armee nicht recht, einen König umzubringen, der Unheil über sein Land gebracht hatte und zu keinem Kompromiss in der Lage war?

Harris: Na, sagen wir so: Es wirkt verständlich, dass die Leute um Oliver Cromwell ...

STANDARD: ... den späteren Lordprotektor ...

Harris: ... den König loswerden wollten. Dem Mann war nicht zu trauen, er brach alle Versprechen, weil er sich für gottgewollt hielt: Gott würde ihn schon verstehen. Aber die Umstände, die zu seinem Tod führten, sind sehr anrüchig: Charles durfte weder einen Anwalt noch Entlastungszeugen benennen, ja er bekam nicht einmal die Anklageschrift vorab zu sehen. Der Ausgang des Verfahrens war von vornherein festgelegt. Eine Art von stalinistischem Schauprozess, der in einen Justizmord mündete. In gewisser Hinsicht bedaure ich, dass er nicht einfach abgesetzt wurde. Irgendeinen vernünftigeren Angehörigen der Stuart-Dynastie hätte man gewiss finden und zum König machen können.

STANDARD: Aber Cromwell wollte den Königskopf "mitsamt der Krone" abschlagen, also die Monarchie abschaffen, und die Lords und Bischöfe gleich dazu.

Harris: Cromwell ist ein komplizierter und hochinteressanter Charakter. Er liebte Musik, die bei den Puritanern verpönt war. Er hätte später auch den Königsthron akzeptiert, wenn das Parlament zur rechten Zeit ein Angebot gemacht hätte. Aber er musste sich dauernd Sorgen machen, die religiösen Fanatiker im Zaum zu halten.

STANDARD: Ein wenig verwunderlich ist ja schon, dass seine Statue heute vor dem Parlament steht.

Harris: Völlig verrückt! Er hat das Parlament mehrfach nach Gutdünken aufgelöst, war in dieser Hinsicht dem König sehr ähnlich. Beide teilten eben das Gefühl, Gott stehe auf ihrer Seite.

STANDARD: Können heutige Leser den religiösen Fanatismus des 17. Jahrhunderts, der sich im Dreißigjährigen Krieg in Deutschland und im englischen Bürgerkrieg entlud, überhaupt noch nachvollziehen?

Harris: Na ja, wir mussten doch in jüngster Zeit lernen, mit religiösem Fundamentalismus zu leben. Zugegebenermaßen betrifft das nicht mehr die englischen Protestanten, aber es gibt den Fundamentalismus in Amerika wie in der islamischen Welt. Mich erinnern Cromwells Soldaten sehr an die Taliban: Sie zerstören Kunstwerke, verbieten Musik, sie schließen die Theater, sie fürchten den Tod nicht.

STANDARD: Sehen sie, was das fanatische Festhalten an quasireligiösen Überzeugungen angeht, Parallelen zur Gegenwart?

Harris: Geschichtliche Ereignisse lassen sich nicht einfach auf die heutige Zeit übertragen. Natürlich ist Großbritannien gespalten, damals wie heute. Wir könnten ein "Gesetz des Vergessens" ganz gut gebrauchen. Der Brexit hatte viele Facetten, aber eine davon war wohl der Gegensatz, der einem auch bei den Royalisten und Puritanern des 17. Jahrhunderts begegnet: hier die städtische Elite, aufgeschlossen, europäisch, beinahe würde ich sagen: katholisch; dort die insularen, allem Fremden, vor allem dem Papsttum gegenüber misstrauischen Puritaner.

STANDARD: Wie bei Ihren Romanen zuvor haben Sie auch diesmal viele Monate lang recherchiert, ehe es ans Schreiben ging. Hat Ihnen die Arbeit Spaß gemacht?

Harris: Bei einem meiner ersten öffentlichen Auftritte im Spätsommer behauptete ich, das Schreiben dieses Buches sei vergnüglich gewesen. Meine Frau war dabei, die sagte hinterher zu mir: "Was erzählst Du denn? Das stimmt doch gar nicht." Und ehrlich gesagt: Sie hatte recht. Diesen Roman zu schreiben war schwierig. Das ging schon mit der langwierigen Recherche los. Das Buch umfasst einen Zeitraum von sechzehn Jahren, hinzu kommen Rückblenden in den Bürgerkrieg, das ist alles ziemlich kompliziert. Dementsprechend ist es auch ziemlich lang geworden. Aber wissen Sie was? So gute Kritiken hatte ich noch nie. Woran man sieht: Wenn sich ein Buch wie von selbst schreibt, ist damit noch lange nicht gesagt, dass es gut geworden ist. (Sebastian Borger aus London, 2.11.2022)