Der Polizeieinsatz in der Halloween-Nacht in Linz wurde um kurz nach drei Uhr früh beendet.
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Am Straßenrand stehen ein paar Polizeiautos. Dutzende Jugendliche ziehen zu Fuß auf der Fahrbahn an ihnen vorbei. Es ist Nacht, die genaue Uhrzeit ist unklar. Polizisten sind in dem Video, das am 31. Oktober in der Linzer Innenstadt gefilmt wurde, nicht zu sehen. Unterlegt ist es mit dem harten Beat des französischen Hiphop-Duos PNL, dessen Lieder in sozialen Netzwerken derzeit tausendfach zu Ausschnitten des Netflix-Films "Athena" gespielt werden. In dem Tiktok-Schnipsel aus Linz marschieren die jungen Menschen die Landstraße hinunter Richtung Ursulinenkirche. "Linz ist Athena geworden", ist der Schriftzug zum Video. Gewalt ist darin nicht zu sehen.

Es sind elf Sekunden aus der Halloween-Nacht in Linz, in der es in der Innenstadt zu Ausschreitungen kam. Passanten, unbeteiligte Menschengruppen, aber vor allem Polizistinnen und Polizisten sollen mit teils professionellen, teils selbstgebauten Böllern beschossen worden sein – von Jugendlichen. Am Dienstagabend gab es erneut Randale in Linz. Was ist da los? Was hat es mit dem Film "Athena" auf sich? Und was ist bisher über die Beteiligten bekannt? Ein Überblick.

  • Was ist konkret passiert – in aller Kürze?
    In der Halloween-Nacht hatten in der Linzer Innenstadt rund 200 Menschen über mehrere Stunden randaliert, Böller auf Menschen und auf die Oberleitungen der Straßenbahn geschossen. In der Folge rückten rund 170 Einsatzkräfte der Polizei aus und versuchten die Randalierer abzudrängen. Der rund fünfstündige Einsatz führte zu neun Festnahmen, zwei Polizisten wurden verletzt. Dienstagabend kam es neuerlich zu – wenn auch deutlich kleineren – Ausschreitungen. Laut Polizei warfen Jugendliche am Taubenmarkt Böller auf Passanten. Als die Exekutive eintraf, flüchteten sie aber und gingen – anders als zu Halloween – nicht auf Konfrontation.

  • Was weiß man über die Beteiligten?
    Es soll sich vor allem um – zum Teil sehr junge – Jugendliche handeln. Das zeigen die aufgenommenen Videos, und das erzählen Augenzeugen. Gesicherte Informationen gibt es zum Alter der Beteiligten allerdings noch nicht. Das sei derzeit Gegenstand der Ermittlungen, sagt ein Sprecher der oberösterreichischen Polizei im Gespräch mit dem STANDARD. In der Halloween-Nacht wurde von 130 Personen die Identität erhoben, Dienstagabend kam es zu 53 Identitätsfeststellungen. "Der überwiegende Teil hat Migrationshintergrund", sagt der Polizeisprecher. Aber auch hier gebe es noch keine fertige Auswertung. Die größte Gruppe seien aber syrische Staatsbürger, das sehe die Polizei schon jetzt. Über den Aufenthaltstitel der Betroffenen gibt es noch keine Auskünfte. Unklar ist derzeit auch noch, ob es sich bei den Randalierern vom Dienstag zumindest zum Teil um die gleichen Personen handelt wie bei jenen in der Halloween-Nacht.

  • Was ist der Hintergrund der Randale?
    Laut Polizei sei aktuell keine klare Struktur erkennbar. Es handle sich wohl eher um eine lose Zusammenkunft junger Menschen, die sich über soziale Medien zusammengeschlossen hatten.

  • Wie haben sich die Beteiligten über soziale Medien organisiert?
    Die Ausschreitungen wurden im Vorfeld auf der Social-Media-Plattform Tiktok angekündigt. Dort findet man Videos, in denen Jugendliche Linz eben "zu Athena" machen wollen, darunter welche mit mehr als 19.000 Likes. In den Kommentaren wird die Beschaffung von Böllern diskutiert: "Morgen wird nicht Halloween, sondern Krieg", liest man darunter. Die Polizei wurde erst während beziehungsweise nach den Ausschreitungen auf die Ankündigungen aufmerksam. Nach dem Aufruhr posteten viele Videos, die vor Ort entstanden waren. Darauf auch zu erkennen: Jugendliche, die vor der Polizei weglaufen.

  • Wer hat diese Videos aufgenommen und geteilt?
    Die Videos zu den Ausschreitungen wurden von verschiedenen Accounts geteilt. Auf den ersten Blick erkennt man: Die Nutzer sind mehrheitlich minderjährig, männlich und sprechen Deutsch. Die Ersteller von Videos, die viel geklickt wurden, haben zu einem großen Teil Usernamen mit türkischem, albanischem und arabischem Ursprung sowie entsprechende Landesflaggen in ihren Nutzerbiografien. Unterlegt werden die Videos mit verschiedenen Sounds. Oft benutzt wurde der Song "J’Comprends Pas" vom französischen Hip-Hop-Duo PNL oder Sounds vom Deutschrapper Bobby Vandamme: "Hinter mir Polizei, habe Gitter vor Augen, ich laufe weg", lauten die Lyrics zu seinem Song "Ronaldinho".

  • Was hat es mit dem Film "Athena" auf sich?
    "Athena" ist ein Spielfilm, der seit Ende September auf Netflix gestreamt werden kann. Im Zentrum der Handlung steht der französische Vorort Athena, in dem soziale Konflikte und Polizeigewalt alltäglich sind. Der ungeklärte Tod eines 13-Jährigen, für den die Bewohner von Athena die Polizei verantwortlich machen, heizt die Stimmung weiter auf – bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Mit improvisierten Waffen stellen sich junge Männer gegen die Polizeikräfte. Zu sehen sind massive Ausschreitungen zwischen der Bevölkerung und der Polizei. Kurz nach Veröffentlichung schaffte es der Film unter die Top Ten auf Netflix. Am Filmfestival in Venedig, bei dem der Film seine Premiere feierte, wurde das Drama von Regisseur Romain Gavras mit zwei Preisen ausgezeichnet.

  • Warum werden solche Aktionen vor allem auf Tiktok verbreitet und weniger auf anderen Plattformen?
    Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens ist die App hauptsächlich bei Kindern und Jugendlichen beliebt – genutzt wird sie aktuell von rund 70 Prozent der Elf- bis 15-Jährigen in Österreich. Zweitens funktioniert Vernetzung auf Tiktok sehr gut. Im Unterschied zu Plattformen wie Instagram oder Snapchat, auf denen man hauptsächlich im Freunden- und Bekanntenkreis kommuniziert, sieht man auf Tiktok vermehrt Inhalte von Fremden. Das funktioniert so: Auf die "For You"-Page, also auf die Startseite der App, werden Videos gespült, die einem gefallen könnten. Von wem sie stammen, ist zweitrangig. Die Inhalte sind aber nicht zufällig ausgewählt: Der Algorithmus arbeitet basierend auf dem bisherigen Verhalten und Standort des Nutzers. So sehen zum Beispiel Linzer auch vermehrt Videos von anderen Linzern, auch wenn sie diese nicht persönlich kennen. Durch das Nutzen ähnlicher Sounds und Hashtags sammeln sich schnell Inhalte zu einem bestimmten Thema – sowie auch jetzt in Linz.

  • Was wird inzwischen zu dem Thema geteilt?
    Zwei Tage nach den Ausschreitungen sieht man auf der Plattform schon neue Trends: Nutzer verweisen auf Aktionen und Ausschreitungen zu Silvester in verschiedenen österreichischen Städten. Gleichzeitig vermehren sich ausländerfeindliche Kommentare, Aufrufe zu Abschiebungen und Warnungen vor dem "Bevölkerungsaustausch" von rechtsextremen Accounts.

  • Was könnte die Jugendlichen motiviert haben, an einer Verabredung zur Randale teilzunehmen?
    "Es liegt viel Spannung in der Luft", sagt Erich Wahl vom Verein Jugend und Freizeit (VJF), der in Linz federführend die Jugendarbeit bestreitet. Erst die Corona-Krise, nun die Teuerung und die bedrohlichen Berichte über den Ukraine-Krieg: Um 60 Prozent sei der Andrang in den Beratungsstellen seit dem letzten "normalen" Jahr 2019 gewachsen. Jugendliche seien von Zukunftsängsten geplagt und fühlten sich verloren, andere kämen, weil sie hungrig seien "und der Kühlschrank zu Hause leer bleibt". Vor allem aber, berichtet Wahl, "nimmt Gewalt in den Familien massiv zu". All das könne schon so viel Zorn anstauen lassen, dass Jugendliche ein Ventil wie in Linz öffneten. Manche wüssten sich dann nicht anderes auszudrücken, als selbst Gewalt anzuwenden.

  • Wie lässt sich erklären, dass – sofern die Information der Polizei stimmt – die große Mehrheit der Beteiligten Migrationshintergrund hat?
    Zuwanderer sind vielfach in einer schwierigeren Lage, das beginnt bei der Arbeitslosigkeit: Bei Jugendlichen mit afghanischer, syrischer und irakischer Staatsbürgerschaft etwa liegt die Quote mit 21,9 Prozent (Stand 2021) fast viermal so hoch wie bei den Österreichern.

    Doch viele Erklärungen sind denkbar, nicht jede wird für jeden Teilnehmer in gleichem Maße gelten. Wer mit Sozialarbeitern spricht, vernimmt auch entspanntere Töne: Dass Jugendliche Grenzen überschreiten, habe es immer wieder gegeben – man denke an Hooligans in heimischen Fußballstadien. Daraus lasse sich nicht gleich eine staatsfeindliche Revolte ableiten. (Katharina Mittelstaedt, Alara Yilmaz, Max Stepan, Gerald John, 2.11.2022)