Im Gastblog plädiert Europapolitiker Hannes Swoboda gemeinsam mit Constantin Lager für einen Staat, der das Solidarische in den Vordergrund stellt und Brücken zwischen Gruppierungen aufbaut.

Als im vergangenen Jahr in Österreich und weiten Teilen Europas zehntausende Menschen gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straßen gingen, waren viele Beobachter und Beobachterinnen verwundert und beängstigt zugleich. Für Verwunderung sorgte der Schulterschluss eines sehr heterogenen Publikums unter den Demonstrationsteilnehmenden, das von Esoterikern und Esoterikerinnen, Linken bis hin zu Neofaschisten und Neofaschistinnen reicht. Besorgnis erregte nicht nur diese zweifelhafte Allianz mit den gut organisierten Rechtsextremen, sondern auch die Gewaltfantasien, die bei den Demonstrationen auf Transparenten sowie auf Social-Media-Plattformen zu lesen waren.

Corona-Demonstrationen: Schmelztiegel verschiedenster Gruppierungen?
Foto: APA/Florian Wieser

Das Sir-Peter-Ustinov-Institut hat sich daher in diesem Jahr dem Thema der Verschwörungstheorien gewidmet und wird im kommenden Jahr das brisante Thema des Autoritarismus bearbeiten. Passend dazu erschien im Oktober das neue Buch von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey unter dem Titel "Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus", das Oliver Nachtwey bei einer Veranstaltung des Sir-Peter-Ustinov-Instituts, des Bruno-Kreisky-Forums und des Renner-Instituts am 10. November vorstellen wird.

Autoritäres Denken trifft libertäre Vorstellungen

Amlinger und Nachtwey haben dafür über 60 Interviews geführt, ausgewertet und zu einer Studie verdichtet, die als Weiterentwicklung der Studie zur "Autoritären Persönlichkeit", die von Theodor W. Adorno und seinen Kolleginnen und Kollegen in den 1950er-Jahren erarbeitet wurde, gelesen werden soll. Diese beschreiben den autoritären Charakter als einen mit Wunsch nach konventionellen Werten, einen, der sich einer idealisierten Autorität unterwirft und der getrieben ist von binärem Machtdenken, Überlegenheitsfantasien und Feindseligkeit. Wie Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey betonen, unterscheidet sich jedoch der neue Typ des Autoritären vom klassischen: "Anders als klassische Rechte wollen die Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, keinen starken, sondern einen schwachen, geradezu abwesenden Staat." Die autoritären Aspekte kommen in einem ausgeprägten binären Machtdenken und der eigenen Überlegenheit gegenüber "den Anderen" sowie in der offenen Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden zum Ausdruck. Beim libertären Autoritarismus handelt es sich also um eine "Metamorphose des autoritären Charakters", aber er ersetzt diesen nicht, er löst ihn nicht ab.

Dies ist für einen gesellschaftlichen Frieden höchst problematisch, geht diese Feindseligkeit doch mit einer Kompromisslosigkeit gegenüber Kontrahenten und Kontrahentinnen einher, die, wie es auch oft auf den einschlägigen Demos skandiert wurde, durch finstere und korrumpierte Eliten geleitet würden. Diese feindselige Abwertung und das Nichterkennenwollen oder -können legitimer Interessen verhindert Kompromisse und somit einen friedlichen gesellschaftlichen Diskurs.

Amlinger und Nachtwey sehen diesen neuen Typus von Autoritären als eine Folge der Spätmoderne und als Symptom eines Legitimitätsverlusts von Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern. Die Politik ist somit gefordert, sich den klassischen wie auch neuen Formen von Autoritarismus entgegenzustellen.

Der Auftrag an die Politik

Der Staat sieht sich verschiedenen Einstellungen und Erwartungen gegenüber. Einerseits gibt es nach wie vor – manchmal sogar verstärkt – die traditionell konservativen Gruppen, dann diejenigen, die soziale Unterstützung und vielleicht sogar einen Ausbau des Sozialstaats erwarten, und dann die verschiedenen autoritären Gruppierungen: die klassische und die libertäre. Hinzu kommt, dass in der Realität verschiedene hybride Formen existieren. Wahrscheinlich ist auch die zunehmende Aufteilung des politischen und vor allem des Parteienspektrums eine Folge dieser gesellschaftlichen Zersplitterung. Das Dilemma der Politik besteht genau darin, dass die Folge der gesellschaftlichen Veränderungen die Reaktion darauf besonders schwierig macht.

Die Politik muss versuchen, Bündnisse zwischen verschiedenen Gruppen zu schließen, um den jeweils aktuell gefährlichsten Auswirkungen der verschiedenen autoritären Strömungen entgegenzutreten. Sie braucht antiautoritäre Allianzen, die über Parteigrenzen hinausgehen. So etwa auch mit den traditionell Konservativen und jenen Gruppen, die den Sozialstaat unterstützen. Dies zum Beispiel, um eine Gesundheitspolitik aufrechtzuerhalten, die etwa Epidemien verhindert bzw. eindämmt. Den wechselnden Allianzen in der Bevölkerung kann nur mit wechselnden Allianzen der Politik begegnet werden – allerdings ohne wichtige, mühsam erkämpfte Grundsätze und Werte über Bord zu werfen.

Die Frage des Staats

Sicher haben Amlinger und Nachtwey recht, wenn sie davon ausgehen, dass der praktizierte Neoliberalismus an der Ausbreitung des libertären Autoritarismus Mitschuld trägt. Vor allem, wenn die darauf aufbauenden Maßnahmen wie Deregulierung, Privatisierung und Abbau des Sozialstaats als alternativlos bezeichnet wurden. Diese Politik unterstützte einerseits eine Haltung der Entsolidarisierung nach dem Motto "Jeder und jede ist für die eigene Gesundheit selbst verantwortlich, und daher braucht man sich nicht um die anderen kümmern". Anderseits hat eine solche Politik viele vom Staat selbst entfremdet, einem Staat, der einem auch im Notfall nicht zu Hilfe kam.

Wenn Politik dem individualistischen und libertären Autoritarismus entgegentreten, aber auch einen Teil der rechts orientierten Menschen wieder für die Demokratie gewinnen möchte, muss sie an der Ausgestaltung des Sozialstaats wieder ein Interesse zeigen. Dabei geht es nicht um einen überbordenden Sozialstaat, sondern einen, der die soziale Gerechtigkeit mit sozialer Verantwortung in Einklang bringt. Vor allem muss es sich um eine Politik handeln, die die in der jüngsten Vergangenheit wieder gestiegene Einkommens- und Vermögenspanne reduziert. Damit kann neben Sozialdemokraten auch ein Teil der klassischen und wertorientierten Konservativen für eine solche Politik gewonnen werden. (Hannes Swoboda, Constantin Lager, 4.11.2022)