Wenn es um Sex geht, ist die Vorstellung vieler Männer immer noch von Klischees und Mythen geprägt. Gleichzeitig entwickeln viele gerade ganz neue Bilder von Sexualität und Männlichkeit. Voraussetzung dafür ist eine bessere Selbstwahrnehmung.

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Wann ist ein Mann ein Mann? Diese Frage ist aktueller denn je. Die Antwort darauf ist vielschichtig. Klar ist: Das Bild von Männlichkeit ist in Veränderung. Doch immer noch ist die allgemeine Vorstellung von Klischees, Glaubensfragen und Mythen geprägt. Will man die Frage etwas genauer erforschen, stößt man erst einmal auf jede Menge Input, bei dem man sich dem Thema über die Qualität des Sexlebens annähert. Und vielfach wird immer noch das Vorurteil rezipiert: Mann will immer und kann jederzeit. Doch zumindest etwas hat sich schon geändert: Es ist mehr Platz für emotionale Bedürfnisse.

Dass das Thema viele beschäftigt, bestätigt auch Sexualberaterin und Sexcoach Nicole Siller: "Zu mir kommen im Moment auffallend viele Männer. Und die Fragen, die sie beschäftigen, sind recht ähnlich. Bin ich noch ein Mann, wenn ich meine Frau nicht die ganze Zeit nehmen will? Wie aggressiv soll oder muss ich sein – beim Flirten, aber auch beim Sex? Ist es normal, wenn ich Zärtlichkeit möchte und verführt werden will?" Auffallend ist dabei: Besonders intensiv beschäftigen diese Themen Männer zwischen 30 und 40. "Da haben nicht wenige das Gefühl: Das, was ich bis jetzt an Sex erlebt habe, wie ich ihn gehabt habe, ist vielleicht nicht alles. Und sie wollen sich neu orientieren."

Klischeegeprägte Vorstellungen

Diese Neuorientierung fällt aber manchen schwer, weil sie meist unbewusst von tradierten Klischees geprägt sind. Siller erzählt: "Ich frage meine Klienten oft, was für sie eigentlich männlich ist. Und viele haben dann gar kein klares Bild davon, sie greifen im Grunde auf überlieferte Vorstellungen zurück." Die Sexcoachin sieht aber ganz klar das Bedürfnis nach neuen Bildern: "Wir haben eine Zeit, in der sich sehr viele Menschen fragen: Was bedeutet es eigentlich, ein Mann zu sein – oder auch eine Frau? Da entstehen gerade ganz neue Zugänge, auch abseits der binären Geschlechteridentität. Im Grunde geht es um die Frage: Wer bin ich als Individuum? Und auch: Wer bin ich in (m)einer Beziehung?"

Ein Thema, das Männer sehr beschäftigt, sind Emotionen. "Viele haben immer noch den Wunsch, die Kontrolle zu behalten. Zartheit, Weichheit oder Sensibilität gestehen sich viele nicht zu. Nicht einmal in einer Beziehung. Ich höre dann immer wieder, dass diese Bedürfnisse zwar da sind, aber dass man das irgendwie in den Griff bekommen müsse."

Dabei, betont Siller, gehe es "nicht um ein Entweder-oder – viel besser ist ein Sowohl-als-auch". Sie empfiehlt, sich Fragen zu stellen wie: Was darf ich sein? Was und wie kann ich alles noch sein? "Man kann ruhig tough und cool sein. Aber man sollte sich auch zugestehen, in manchen Bereichen oder Situationen vielleicht zart und weich zu sein. Das kann unglaublich viel Druck rausnehmen und Möglichkeiten öffnen."

Raus aus dem Kopf, rein in den Körper

Wie kann dieser veränderte Zugang aber gelingen? Siller empfiehlt ihren Klienten, raus aus dem Kopf zu gehen – denn dort sitzen diese alten Denkweisen ja – und mehr in den Körper zu kommen. Da hineinzuspüren ist auch gar nicht so schwer: "Die Sinne kann man ganz einfach schärfen, indem man sich, je nach Situation, fragt: Was sehe, höre, spüre, rieche, schmecke ich gerade? Wie fühle ich mich jetzt, wie geht es meinem Körper? Dann nimmt man die Welt gleich ganz anders wahr."

Man kann auch mit Atmung und Achtsamkeit arbeiten, etwa bewusst tief in den Bauch atmen. Oder bei jedem ersten Bissen, egal was man isst, diesen bewusst anschauen, die Optik wahrnehmen, die Konsistenz im Mund erspüren, dem Geschmack nachspüren. Oder man spürt in der Früh, wenn man die Füße aus dem Bett schwingt, wie sich der Boden unter den Sohlen anfühlt. "Es gibt unzählige Möglichkeiten, Achtsamkeit zu üben."

All das mündet in eine Erweiterung der Selbstwahrnehmung – und genau die braucht es, um alte Klischeevorstellungen aufzubrechen. "Wer sich selbst bewusster wahrnimmt, und zwar mit allen Sinnen, dem kann es auch gelingen, der starke Macher zu sein, überlieferte Vorstellungen zu erfüllen und trotzdem seinen ureigenen Weg zu finden – und vielleicht doch auch emotional, weich und anlehnungsbedürftig zu sein." (kru, 6.11.2022)