Der Österreicher Emil Kliemann mit "seiner" Agentin Nathalie Sergueiew 1944. Dass Sergueiew nicht für ihn und die deutsche Abwehr, sondern für den britischen MI5 arbeitete, flog nicht auf.
Foto: The National Archives UK

Die Beamten im britischen Konsulat in Madrid staunten nicht schlecht darüber, was ihnen eine junge Frau im Juni 1943 eröffnete, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Sie wolle im Auftrag der Deutschen nach England reisen, um dort kriegswichtige Dinge auszuspionieren – zumindest müsse es so aussehen. In Wirklichkeit wolle sie aber für den britischen Geheimdienst arbeiten und biete hiermit ihre Dienste an.

War das Glück oder eine Falle? Konnte man dieser 31-jährigen Frau namens Nathalie Sergueiew trauen, angeblich in Russland geboren, in Frankreich aufgewachsen und unerschrockene Nazigegnerin?

Der britische Security Service entschied sich dafür, das ungewöhnlich plumpe Angebot anzunehmen. Sergueiew erhielt den Decknamen "Treasure" – und der passte vorzüglich: Schon bald sollte sich zeigen, welcher Schatz sie für London war, wie Maik Baumgärtner und Ann-Katrin Müller detailreich recherchiert haben.

Neues Licht auf prägende Agentinnen

In ihrem neuen Buch "Die Unsichtbaren" setzen die beiden "Spiegel"-Journalisten der bedeutenden, aber bis heute kaum bekannten Doppelagentin ein lesenswertes Denkmal – und nicht nur ihr: Faktenreich beleuchten sie die Rolle von Frauen in Geheimdiensten von der Kaiserzeit bis heute und zeichnen fernab von verbreiteten Klischees nach, welchen Einfluss Agentinnen und Spioninnen auf den Lauf der deutschen und mitunter auch der österreichischen Geschichte hatten.

Dass Nathalie Sergueiew in dem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet ist, scheint da nur folgerichtig. Auf welche Risiken sie sich im Geheimdienstkrieg gegen die Nationalsozialisten eingelassen hatte, war ihr bewusst, wie sie festhielt: "Es ist ein schönes Spiel, es ist ein großartiges Spiel, aber wenn wir es verlieren, verlieren wir unser Leben ... oder zumindest meines." An Mut und Abenteuerlust hatte es ihr aber schon vor ihrer Karriere als Doppelagentin nicht gefehlt.

Mit dem Rad zu Göring

Sergueiew, 1912 in Sankt Petersburg geboren und als Kind in Frankreich eingebürgert, wollte zunächst Künstlerin oder Journalistin werden. 1933 brach sie, gerade 22 Jahre alt, zu einem Fußmarsch von Paris nach Warschau auf, um Reportagen zu schreiben (unter anderem für die "Neues Wiener Journal") und sich zur Malerei inspirieren zu lassen.

Auf Zwischenstation in Deutschland nächtigte sie in einem Arbeitslager, versuchte vergeblich, ein Konzentrationslager zu besichtigen, und wurde schließlich bei dem Versuch verhaftet, sich in den Reichstag einzuschleichen. Die drei Tage im Gefängnis bezeichnete sie als "schön" und "interessant" und freute sich über die Möglichkeit, dort baden zu können, "was auf einer Reise immer guttut".

Im Jahr darauf fuhr sie mit dem Fahrrad aus Paris über Deutschland, die Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn und Jugoslawien nach Italien, unterwegs führte sie ein Interview mit Hermann Göring, Hitlers rechter Hand. Der zeigte sich von der selbstbewussten jungen Frau ebenso beeindruckt wie der Berliner Journalist Felix Dassel.

Mission auf eigene Faust

Letzterer arbeitete verdeckt für die Abwehr, den militärischen Geheimdienst der Wehrmacht. 1937 versuchte er, Sergueiew für den deutschen Geheimdienst anzuwerben. Sie lehnte ab. Stattdessen plante sie ihre nächste Reise, die noch größer werden sollte: 1938 brach sie auf, um allein mit dem Fahrrad von Frankreich nach Vietnam zu radeln – 17.000 Kilometer. Doch es kam anders. Als Deutschland Polen überfiel und den Zweiten Weltkrieg entfachte, war Sergueiew schon in Syrien.

Sie disponierte um, machte in Beirut eine Ausbildung als Krankenpflegerin. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich fällte Sergueiew einen Entschluss. Sie wollte zurückkehren und dabei helfen, Paris von den Nazis zu befreien. Ihr Plan: Sie würde sich doch als deutsche Agentin anwerben lassen, in Wahrheit aber gegen die Deutschen arbeiten. Sie wollte also Doppelagentin werden, auf eigene Faust.

Doppeltes Spiel

Erstaunlicherweise klappte das auch: Ihr Führungsoffizier im deutschen Militärgeheimdienst wurde der Österreicher Emil Kliemann. Er ließ sie in Techniken wie Funken, Morsen und Schreiben mit Geheimtinte schulen und plante ihre Spionagemission in England – und die Ausreise über Madrid. Aus dem Zielland sollte sie Beschreibungen von Flughäfen, Informationen über Truppenbewegungen und Details zu Flugabwehrraketengeschützen liefern. Als Kliemann Sergueiew vor der Abreise noch einmal in Madrid traf, war der britische Geheimdienst längst im Bilde.

Anfang November landete die Agentin in Bristol und hatte schon bald viel zu berichten. Innerhalb von Monaten wurde sie zu einer wichtigen Quelle für die Deutschen. Zumindest dachte man das in Berlin.

Falscher Funk

Tatsächlich war die Desinformation von nun an Sergueiews Spezialgebiet. Sie lieferte per Funk vermeintliche Details über britische Militärtechnologien und Truppenbewegungen, und noch viel wichtiger: über die alliierten Pläne zur Landung auf dem europäischen Festland. Die Informationen kamen in Wirklichkeit direkt vom MI5, der mit Sergueiew nun über einen direkten Draht verfügte, um glaubhafte Falschinformationen an Berlin zu übermitteln.

Mit Erfolg: Sergueiew trug mit ihren Funksprüchen dazu bei, dass die Deutschen glaubten, die Alliierten wollten nicht in der Normandie, sondern östlich des französischen Départements Pas-de-Calais landen. Dort wurde auch die Verteidigungslinie der Wehrmacht besonders stark ausgebaut.

Als in der Nacht auf den 6. Juni 1944 die ersten alliierten Soldaten die Strände der Normandie erreichten und die Westfront der Anti-Hitler-Koalition eröffneten, war Sergueiew außer sich vor Freude. "Sie sind gelandet, die Befreiung hat begonnen!" Ihre Mission war erfüllt. (David Rennert, 6.11.2022)