Festgehaltene Jugendliche in der Halloween-Nacht von Linz: Nach drei Jahren Krise liegt viel Spannung in der Luft.

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Es war ein bunter, multikultureller Haufen, der in der Halloweennacht Randale in der Linzer Innenstadt machte. Weder eine feste Organisation konnte die Polizei bisher ausmachen noch eine politische Agenda abseits des Ziels, Szenen eines Netflix-Films in der Realität nachzuspielen. Ein gemeinsamer Nenner: Die Mehrheit der Beteiligten ist minderjährig.

Was trieb die Kids dazu, mit exzessivem Einsatz von Böllern einen Großeinsatz der Polizei auszulösen? Ohne die Urheber anzuhören, lassen sich naturgemäß nur Vermutungen anstellen. Und nicht jede Erklärung, die Sozialarbeiter und andere Berufene auf Anfrage des STANDARD anbieten, wird in gleichem Maße auf jeden Einzelnen zutreffen.

Wer bei Erich Wahl nachfragt, bekommt eine wenig ermutigende Bestandsaufnahme präsentiert. Nach fast drei Jahren permanenter Krise liege "viel Spannung in der Luft", sagt der Leiter des Vereins für Jugend und Freizeit (VJF), der in Linz federführend die Jugendarbeit betreibt. Erst legten die Corona-Lockdowns weite Teile des Teenagerlebens lahm, dann schürte der Ukraine-Krieg Zukunftsängste, ehe die Teuerung auch noch soziale Nöte anheizte: Um 60 Prozent sei der Andrang in den Beratungsstellen seit 2019, dem letzten "normalen" Jahr, gewachsen.

Bleierne Pandemiezeit

Viele Jugendliche fühlten sich verloren, andere kämen, weil sie hungrig seien "und der Kühlschrank zu Hause leer bleibt". Vor allem aber, berichtet Wahl, "nimmt Gewalt in den Familien massiv zu. Manche Jugendliche erkennen dann selbst keine andere Möglichkeit mehr, als sich auf diese Weise auszudrücken."

Gewachsenes Aggressionspotenzial, angestauter Zorn und die Sehnsucht, in unübersichtlichen Zeiten zu einer Gruppe zu gehören: All das könne schon eine Entladung wie in Linz auslösen, sagt der Jugendarbeiter.

Auch Andrea Mayrwöger sieht die Basis in der bleiernen Pandemiezeit gelegt. Schwarz-Weiß-Denken und Spaltungstendenzen hätten vor der jüngeren Bevölkerung nicht halt gemacht, glaubt die Leiterin des Integrationsvereins Zusammenhelfen. Was in früheren Zeiten womöglich unter der Decke geschwelt habe, finde in den sozialen Medien eine ideale Plattform zum Aufschaukeln – und, wie im Fall der Halloweenkrawalle, zur unkomplizierten Verabredung mit Gleichgesinnten. Auf diese Dynamik solle der Fokus bei der Aufarbeitung der Linzer Nacht gelegt werden, empfiehlt Mayrwöger – und nicht auf die Migrationsgeschichten von Beteiligten.

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Unausweichbare Ausländerfrage

Doch ausklammern lässt sich die "Ausländerfrage" schwerlich, zu sehr sticht der Nationalitätenmix der Jugendlichen ins Auge (siehe Kasten unten). Von den 129 registrierten Verdächtigen besitzen 83 keine österreichische Staatsbürgerschaft, und auch von den restlichen 46 sollen laut Polizei "sehr viele" Migrationshintergrund haben.

Wer die Ausschreitungen mit der "Perspektivlosigkeit" junger Menschen erklären will, kommt an diesem Aspekt nicht vorbei. Egal, ob Staatsbürgerschaft oder Migrationshintergrund der Maßstab ist: In sozialen Charts hinken Zuwanderer grosso modo hinterher. Geringeres Bildungsniveau führt zu schlechter bezahlten Jobs und höherem Risiko von Armut und Arbeitslosigkeit. Ein Indikator von vielen: Bei Jugendlichen mit afghanischer, syrischer und irakischer Staatsbürgerschaft etwa liegt die Arbeitslosenquote mit 21,9 Prozent (Stand 2021) fast viermal so hoch wie bei den Österreichern.

Geschichten der Anfeindung

Alltagsrassismus trage das Übrige bei, damit sich Migrantinnen und Migranten ausgeschlossen fühlten, ergänzt Mayrwöger. Selbst erfolgreiche Menschen sähen sich zum permanenten Bedanken bei "Österreichern" genötigt und müssten Sprüche über sich ergehen lassen wie: "Na, hast Glück gehabt, dass wir dir diese Chance gegeben haben."

So mancher eingesessene Österreicher wird die Geschichte von der Anfeindung wohl andersrum erzählen. Könnte es nicht auch eine Rolle spielen, dass bestimmte Gruppen womöglich eine größere Aggressions- und Gewaltbereitschaft mitbringen? Aus eigener Erfahrung könne er diese Vermutung nicht ohne weiteres wegwischen, sagt Jugendarbeiter Wahl: Wer in einem verrohten, von Krieg zerstörten Land aufwachse, sei anders sozialisiert, als es hierzulande die Regel sei.

Warnung vor der "vollen Härte"

In keinem Fall, da sind sich die beiden Fachleute einig, werde die von Politikern beschworene "volle Härte des Gesetzes" die Lösung bringen. Neben dem Strafrecht, das natürlich nicht ignoriert werden dürfe, brauche es Gewaltpräventionsprogramme, sagt Wahl – und Augenmaß bei den Mitläufern. Überzogene Strafen könnten Jugendliche, die einmal einen Fehler gemacht hätten, nur noch weiter aus der Bahn werfen.

Mayrwöger sieht einen Schlüssel in Freiwilligenarbeit, wie sie ihr Verein fördert. Integration funktioniere dann, wenn Jugendliche einen Menschen zum Anlehnen hätten, der auch einen adäquaten Lebensstil vermittelt: "Haben sie niemanden, pfeifen sie drauf."

Wer am Zustand der Welt verzweifle, dem müsse man zuallererst zuhören, sagt David Hinderling. Der Leiter des oberösterreichischen Integrationsvereins Isi fügt der These von den frustrierten Jugendlichen allerdings eine andere Erklärung hinzu, die – wie er sagt – "verharmlosend" klingen möge.

Ihm scheine, dass die Krawallmacher in Linz, gerade nach der Corona-Zeit, "in erster Linie einfach etwas erleben wollten", sagt Hinderling. Dass junge Menschen dabei Grenzen überschreiten, sei nicht neu, man denke nur an (einheimische) Fußballhooligans. Überraschend sei höchstens das Ausmaß der Aktion.

Aus Ausschreitungen lasse sich nicht gleich eine Revolte staatsfeindlicher Jugendbanden ableiten, folgert Hinderling. Sein Tipp: "Das Ganze wird so schnell wieder verschwinden, wie es gekommen ist." (Gerald John, 4.11.2022)