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Adolf Hitler, wie ihn 1905 ein Mitschüler porträtierte. Aus seiner Wiener Zeit sind keine Abbildungen bekannt.

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Unter allen historischen Werken und den zahlreichen entbehrlichen Machwerken im TV-Dokubereich zum Leben Adolf Hitlers hat wenig so große Relevanz für das Heute wie Brigitte Hamanns "Hitlers Wien". Die 2016 verstorbene Historikerin legte damit 1996 eine Sozial- und Kulturgeschichte Wiens vor dem Ersten Weltkrieg vor, die begreifbar macht, welche politischen Triebkräfte den jungen Hitler prägten, und vor allem: welche Art der politischen Kultur – die Verführbarkeit der Massen, das populistische Agieren mit Feindbildern – zwischen 1890 und 1910 heranreifte.

Hitlers Wien war das Wien Karl Luegers, über dessen Erbmasse angesichts des problematischen Denkmals für den Bürgermeister bis heute gestritten wird. Umso sinniger ist es, dass die Historiker Johannes Sachslehner und Oliver Rathkolb Hamanns Klassiker nun in aktualisierter Fassung im Molden-Verlag neu herausgegeben haben. Neue Quellen wurden eingearbeitet, alte, ins Zwielicht geratene, zurückgenommen, fünfzehn Prozent des 500-seitigen Bands neu geschrieben. Reich bebilderte Einschübe greifen interessante Details heraus und sollen das Werk auch für den Schuleinsatz tauglicher machen.

Gefestigter Antisemit

Das Buch umfasst die Zeit von Hitlers Aufwachsen in der oberösterreichischen Provinz über seinen Umzug nach Wien im Jahr 1908 bis zu seiner Fahnenflucht und Meldung zur Bayerischen Armee 1914. Wichtigste Erkenntnis dieser Spurensuche: Nicht erst in München, wo Hitler die NSDAP zum Aufstieg peitschte, sondern bereits in Wien als Anfang Zwanzigjähriger hatte er ein gefestigtes Weltbild, das gegen die Vielvölkermonarchie und auf ein vom Rassenantisemitismus geleitetes Großdeutschland gerichtet war.

Brigitte Hamann hatte die gefestigte antisemitische Einstellung noch mit dem Hinweis verneint, dass Hitler – der sich als Amateurmaler verdingte – mit jüdischen Kunsthändlern wie Jakob Altenberg und Samuel Morgenstern verkehrte. "Dieses Argument wurde von uns fallengelassen", sagt Johannes Sachslehner zum STANDARD. Denn zu viele glaubwürdige Quellen würden darauf hindeuten, dass Hitlers Antisemitismus bereits ein zentraler Kern seiner Ideologie war.

Wenn also Hitler-Biografen wie Brendan Simms behaupten, der Weg des Diktators habe erst in München begonnen, sei das "schlichtweg falsch", sagt Oliver Rathkolb. Es verkenne die komplexe Lebensrealität, die Hitler in Wien prägte.

Foto: Molden-Verlag

Dazu gehört eine bereits antisemitisch durchsetzte Medienlandschaft. Aus den zahlreichen Zeitungen der damaligen Zwei-Millionen-Metropole (fünftgrößte Stadt der Welt) bezog Hitler einen Großteil seiner Bildung. Er las den Rassentheoretiker Houston Stewart Chamberlain, den antisemitischen Frauenhasser Otto Weininger oder später Gustave Le Bons "Psychologie der Massen". Er sog, wenn auch distanziert, die Ideen rassistischer Okkultisten wie den "Ariosophen" Jörg Lanz von Liebenfels und Guido von List auf, war beeindruckt von der Massenmobilisierungskraft der an sich verhassten Sozialdemokratie. Der gesamte Nationalsozialismus erscheint im Lichte dessen wie ein Puzzle, dessen Teile Hitler aus dem zusammensetzte, was er im politischen Schmelztiegel der Doppelmonarchie bereits vorgefunden hatte.

Schönerer und Lueger

Die Ideologie fand Hitler bei dem Waldviertler Bauernführer Georg von_Schönerer (1842–1921), den politischen Werkzeugkasten bei Karl Lueger (1844–1910). Schönerer, Kopf der Alldeutschen Bewegung, ließ sich mit "Heil" grüßen und propagierte die "Einheit durch Reinheit". Zu seinen Anhängern gehörte anfangs Lueger selbst, aber auch der Begründer der Sozialdemokratie, Victor Adler – Letzterer wurde nach Einführung eines "Arierparagraphen" als jüdisch ausgeschlossen. Lueger emanzipierte sich von Schönerer und gründete die konservative Christlichsoziale Partei, die sich anfangs "die Antisemiten" nannte und noch lange intern so bezeichnet wurde.

Wie stark verflochten der konservative und deutschnationale Antisemitismus damals waren, ist eine Erkenntnis aus jüngerer Zeit. Für Luegers Antisemitismus gibt es sowohl Belege, die eine bloße populistische Benutzung als Feindbild nahelegen, als auch welche, die auf Rassenantisemitismus hindeuten. "Wer ein Jud’ ist, bestimme ich!", lautet ein Ausspruch, ein anderer: "Der Antisemitismus wird zugrunde gehen, aber erst dann, wenn der letzte Jude zugrunde gegangen ist."

Hitler sah in Lueger den "gewaltigsten deutschen Bürgermeister aller Zeiten" und war begeistert vom Redetalent sowie dem Personenkult des "Volkstribuns". Imponiert hat Hitler auch, wie erfolgreich Lueger darin war, das Kleinbürgertum, Handwerker, mittelständische Un ternehmer, für sich als treue und potente Machtbasis einzuspannen.

Kein Zweifel dürfte heute darüber bestehen, dass das Festhalten an Luegers Huldigung als Stadtmodernisierer nicht mehr gangbar ist. Was "Hitlers Wien" über die Einschätzung Luegers hinaus noch für das Heute aussagen kann, formuliert Johannes Sachslehner so: "Es zeigt exemplarisch, welch verhängnisvolles Gemisch aus Weltverschwörungstheorien und nationalistischen Machtfantasien in einem als ‚Krisenzeit‘ empfundenen Umfeld heranwachsen kann. Die analytisch scharfe Auseinandersetzung damit ist unbedingt notwendig, wollen wir nicht wieder von einem angeblichen ‚Messias‘ überrascht werden." (Stefan Weiss, 3.11.2022)