"Die totale Vereinfachung führt zum Faschismus": Miljenko Jergović.

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Er hatte zuweilen das Glück, alleine als Bub in der Wohnung in Sarajevo zurückgelassen zu werden. Dann ging er auf Geheimnisrecherche, durchstöberte die Schubladen der Mutter, suchte auf alten Fotos nach Hinweisen, studierte Dokumente. "Es war nicht so, dass ich meiner Familie nicht vertraute, aber ich wollte Quellen finden, Beweise oder Gegenbeweise für wichtige Ereignisse", erzählt der kroatische Schriftsteller Miljenko Jergović über seinen kindlichen Erkundungsdrang, der ihn bis heute in Aufregung versetzt. Diesem Forschergeist blieb eigentlich keine andere Berufswahl als die des Geschichtenerzählers. Wie kaum ein anderer ist Jergović ein Chronist der Ereignisse in den Landen seiner Sprache, die sich "von der westlichen Grenze Kroatiens bis zur östlichen Grenze Serbiens" erstreckt, wie er beim Interview Ende Oktober erzählt.

Spionagespiel im Café

Jergović übt sich seit Jahrzehnten in der Methode des Belauschens, etwa im Café auf dem Marktplatz in Zagreb, wo er seit 1993 lebt. "Das ist nichts anderes als eine Art von Spionagespiel, das wir in den Zeiten des Sozialismus gemacht haben. Es ist unglaublich, was Menschen alles von sich zeigen und sich gegenseitig sagen", meint er. Die Charaktere in seinen Romanen sind dementsprechend schillernd und verführerisch. Jedes Gespräch, jede Geste, die er im Alltag wahrnimmt, füttert ihn, den Erzählsüchtigen.

Fast jedes Jahr veröffentlicht er auf diese Art ein Buch, einen Roman oder eine Novelle neben anderen großen Texten und politischen Kommentaren. Jergović, heute 56 Jahre alt, publizierte 1988 den ersten Gedichtband. Im Bosnienkrieg entstand sein erstes Erzählwerk Sarajevo Marlboro, fein gezeichnete Miniaturen aus wunderlichen Charakteren, Beziehungsabwägungen und Alltagsbeobachtungen, die Geschmack auf die Stadt machen. Bis heute widmet sich Jergović seinem Herkunftsort, der so wie er selbst längst ein anderer wurde. Spätestens 2003 wurde er mit seinem großen Familienepos Das Wahlnusshaus zum Romancier, der Biografisches, Anekdotisches und Fiktives in konzentrischen Kreisen verwebt.

Die unerhörte Geschichte

Zehn Jahre später erschien der zweite große Gesellschaftsroman (auf Deutsch Die unerhörte Geschichte meiner Familie), mit dem er die Familiengeschichte seiner Mutter nachzeichnete und sich endgültig in die Reihe der großen europäischen Erzähler einreihte. Später im Roman Otac folgte auch die seines Vaters. Jergović kommt allen seinen Figuren sehr nahe. Es fühlt sich an, als entführe er direkt in deren Köpfe und dorthin, wo deren Blick schweift. Und immer reibt er sich an der Geschichte, etwa im Roman Ruta Tannenbaum (2006), in dem es um das Wegschauen geht, wenn in der Nazizeit die jüdischen Nachbarn aus Zagreb verschwinden.

(Vor)Namen und Identität

Jergović kratzt aber auch an aktuellen heiklen Tabus. In seinem letzten ins Deutsche übersetzten Roman Roter Jaguar (im Original Herkul) beschreibt er etwa, wie Menschen, die aus Serbien, Bosnien-Herzegowina oder Kroatien kommen, andere permanent belauern, um herauszufinden, zu welcher Volksgruppe sie gehören. Besonders wird dabei auf die Vornamen und Nachnamen geachtet, denn sie verraten oft, ob es sich um Serben, Bosniaken oder Kroaten handelt. Dieses permanente Identifizieren – auch von Wildfremden – bestimmt tatsächlich die Alltagskommunikation.

Jergović nennt dieses zwanghafte Zuordnen von Menschen zu Volksgruppen das "Drama unserer Leben". In der Figur des Kroaten Ante Ćumur beschreibt er den Prototyp eines Nationalisten, der sich auf seine Gruppenzugehörigkeit stützt und deshalb Teile der Realität anderer Menschen abspaltet und leugnet. Ćumur sei das "Endprodukt der kollektiven Selbstidentifizierung", erklärt Jergović. "Wir leben hier mit einer starken religiös-ethnischen Identität. Das ist nicht schön, und daraus erwachsen viele Probleme, aber jeder Mensch sucht Zugehörigkeit, anderswo ist es deshalb nicht viel besser", sagt der Schriftsteller. Die Unterschiede lägen nur in der Bildung und darin, welchem Modell man folge. "Denn mit dieser Selbstidentifizierung werden zwei menschliche Bedürfnisse befriedigt: Einerseits sucht man den Schutz der Herde und andererseits will man Dinge vereinfachen, was viel gefährlicher ist. Man kann damit Beziehungen simplifizieren, den eigenen moralischen Rahmen und sogar den Sinn des Lebens. Die totale Vereinfachung führt aber zu Faschismus", warnt er.

Eine gemeinsame Geschichte

Durch die Kriege in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien sei die plurale und vielfältige Gesellschaft vernichtet worden, weiß Jergović, der selbst 1993 aus der belagerten Stadt Sarajevo floh. "Eine gemeinsame Geschichte war eigentlich nur in der vorherigen Welt möglich, in der jugoslawischen", denkt er heute, "in jener wirklich multikulturellen Gemeinschaft, die aber kein Bewusstsein darüber hatte, dass sie eine multikulturelle Gemeinschaft war." Das Erwachen daraus beschreibt er als ähnlich ernüchternd wie die Verkostung des Apfels im Paradies durch Adam und Eva. "Vielfalt existiert immer nur bis zu dem Augenblick, bis Multikulti ein Imperativ oder eben bewusst wird, dann wird sie zum Problem", erklärt er.

Nach dem Ende des Kriegs, vor 30 Jahren, hätten er und viele andere noch eine idealistische Projektion einer "Europäisierung des Balkans" gehabt. "Aber die hat nicht stattgefunden, und heute scheint nicht nur Europa balkanisiert, sondern die ganze Welt", konstatiert der Autor. Als Jergović etwa die Direktübertragung des Sturms auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 anschaute, tauchten in seinem Kopf die Bilder vom Angriff auf die kroatische Stadt Vukovar und die Belagerung von Sarajevo auf, die Gesichter des Mobs, von Kriegstreibern wie dem Rechtsextremen Vojislav Šešelj. "Die Bilder von Vukovar und Sarajevo erreichen uns jetzt überall", meint er.

Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. € 22,70 / 192 Seiten. Schöffling, 2021.
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Kommunikationshöllen in Europa

Während Jergović gegen kollektive Stereotype anschreibt und seine Figuren mit so viel Eigenart und Capricen auskleidet, dass Klischees gar nicht auftauchen können, warnt er gleichzeitig vor der Falle, die um die nächste Ecke lauert. "Wir leben in Europa in zwei Parallelwelten und zwei Kommunikationshöllen. Die Hölle Nummer eins ist die des Hasses und der extremen Rechten, zu denen die russische Aggression gehört. Und die zweite Hölle ist jene der politischen Korrektheit", führt er aus. Wenn man etwa bei einem Menschen afrikanischer Herkunft die Hautfarbe ignorieren müsse, blende man gleichzeitig auch die Vorurteile und den gesamten zivilisatorischen Kontext aus. "Das ist ein gefährlicher Zugang, weil man durch politische Korrektheit das politisch Inkorrekte unterdrückt oder zumindest nicht aussprechen kann. Wenn man verbietet, Schwarze schwarz zu nennen, dann verbietet man gleichzeitig, über den Untergrund, aus dem das Problem erwachsen ist, zu sprechen. Auch das ist totalitär", kritisiert der Dichter, der selbst keine Streitthemen scheut.

So hat er die Deklaration zur gemeinsamen Sprache der Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner nicht unterschrieben, die von 200 Intellektuellen 2017 verfasst wurde und mittlerweile 8000 weitere Unterstützer hat. Die Deklaration wendet sich gegen die negativen gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen politischer Manipulationen durch die aktuelle nationalistische Sprachpolitik in Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina. Jergović mag keine politischen Vereinnahmungen. "Für mich ist Sprache etwas sehr Persönliches. Ich würde nie einer kollektiven Sprache zustimmen." Seine Literatur umfasse alle Worte, die in der Region gesprochen würden. "Meine Literatur ist deshalb die Deklaration, die ich unterschreiben würde."

Unschuldige Worte

Dabei ist die bosnisch-kroatisch-serbische Sprache selbst ein Thema seiner Werke. So bezahlt etwa ein Mann namens Zoran im Buch Roter Jaguar mit seinem Leben, weil er von nationalistischen Kroaten als "Serbe" identifiziert, ungerechtfertigterweise eines Verbrechens bezichtigt und gelyncht wird. In Kroatien, in Bosnien-Herzegowina, in Serbien und in Montenegro können nämlich schon kleine unschuldige Worte wie Karotte (entweder "mrkva" oder "šargarepa") "verraten", welche "Nationalität" man hat. "Das ist die Lebenstragödie dieser Region und einer ganzen Generation. Es ist auch die historische Tragödie dreier sich sehr nahestehenden Kulturen", merkt Jergović an.

Sein beständiger Versuch, dem Vereinfachen und der Ethnisierung entgegenzutreten, wird in Österreich am 20. November im Rahmen der Europäischen Literaturtage in Krems mit dem Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln gewürdigt – einer von mittlerweile unzähligen Auszeichnungen, die der große kroatische Erzähler, der längst zum wichtigsten Förderer von Literatur in seinem Sprachkreis geworden ist, erhalten hat.

Gott im Text erfinden

Jergović, dessen Werke unter anderem ins Englische, Spanische, Polnische, Russische, Ukrainische, Arabische, Persische, Hebräische, Französische, Italienische, Japanische und auch ins Türkische übersetzt werden, ist dennoch bescheiden, wenn es um die Wirkung seiner Texte geht. "Bücher kann man ignorieren. Bei einem Lied im Radio geht das nicht so gut", meint der Mann mit den langen graumelierten Haaren schalkhaft.

Er selbst ist mindestens ein so großer Leser wie Dichter. Das Lesen selbst definiere den Menschen in seinem Selbstverständnis: "Alles, was den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, ist im Lesen beinhaltet. Wer wir sind und was wir tun, erfahren wir über Texte", so Jergović. "Als die Menschen Gott erfunden haben, haben sie ihn in einen Text gestrickt, in dem wiederum Gott die Menschen erfindet. Und sie haben über diesen Text kommuniziert, um über Gott zu sprechen. Das finde ich sehr berührend. Denn wenn Gott über einen Text mit den Menschen kommuniziert, dann ist das ja Literatur. Und genau dort beginnt und endet der Einfluss von Büchern." Jergovićs Werke sind in jedem Fall höchst wirksam, eröffnet er doch ein ganzes Universum von kleinen Geschichten, um die herum er mit Klarsicht, Witz und Verdichtung die große Geschichte eines Teils von Europa malt. (Adelheid Wölfl, 4.11.2022)