Desinformation, oft mit dem inzwischen kritisch gesehenen Begriff "Fake News" identifiziert, wird seit einigen Jahren als zunehmende Bedrohung für die Demokratie wahrgenommen. Einige Fachleute aus den Bereichen Kommunikations- und Politikwissenschaften versuchen, das Problem anlässlich der in den USA bevorstehenden Midterms aus wissenschaftlicher Sicht einzuordnen. Sie warnen dabei vor übertriebener Sorge und zeichnen ein differenziertes Bild, das für die USA spezifisch ist.

Judith Möller, Professorin für politische Kommunikation und Journalismus an der Universität Amsterdam, sagt, dass der Effekt von Desinformation auf Wahlen zwar klein, aber statistisch signifikant sei. Desinformation in Onlinemedien wurde effektiv genutzt, um in Bundesstaaten wie Pennsylvania, wo Wahlausgänge traditionell knapp sind, bestimmte Wählergruppen zu demobilisieren. Wählen zu gehen sei in den USA deutlich aufwendiger als in Europa. "Zur Wahl zu gehen dauert oft den ganzen Tag, und das ist zum Teil auch so gewünscht", sagt Möller. Die Wahl würde also von Menschen entschieden, die entweder stark an Politik interessiert oder stark polarisiert seien. Der größte Teil der Menschen in den USA sei nicht besonders von Polarisierung betroffen, sondern eher unpolitisch. Hier sei eine Demobilisierung am effektivsten.

Demokraten als Nutznießer

Wem Desinformation letztendlich mehr nutze, sei dabei gar nicht klar, sagt Andreas Jungherr, Politikwissenschafter an der Universität Bamberg. Er stellt die Frage: "Was würde passieren, wenn wir es mit einer normalen Wahl ohne Desinformation zu tun hätten?" Dabei erinnert er an die hohe Inflation und die Wirtschaftslage, deren Auswirkungen für viele Menschen spürbar seien. Angesichts der Ausgangslage sei eher ein starker Gewinn der Republikaner zu erwarten gewesen, insofern sei das sich derzeit abzeichnende knappe Rennen erstaunlich. Die Desinformationen hätten Ängste vor dem Verlust der Demokratie geschürt, die den Demokraten genützt hätten. Inzwischen sei eine Dämpfung des Effekts und eine Verlagerung der Aufmerksamkeit hin zu Wirtschaftsthemen merkbar.

Christian Hoffmann, Professor für Kommunikationsmanagement an der Universität Leipzig, sagt, dass die Demokraten zu Beginn des Wahlkampfs gezielt auf die abschreckende Wirkung mancher republikanischer Kandidaten gesetzt hätten und die Sorge um die Demokratie zum Wahlkampfthema gemacht hätten. "Diese Sorge ist eines der Topthemen dieser Wahl, auf beiden Seiten", sagt Hoffmann. Insgesamt geben bei Umfragen 80 Prozent an, Angst vor der Wahl zu haben.

Mit dem Begriff Desinformation ist dabei nicht generell "Missinformation" wie in dem inzwischen als problematisch eingestuften Begriff "Fake News" gemeint, sondern absichtlich und in vollem Bewusstsein in die Welt gesetzte Falschinformation. "Der Definition der Politik- und Kommunikationswissenschafterin Claire Wardle folgend werden unter Missinformation falsche Informationen verstanden, unabhängig vom Vorliegen einer Täuschungsabsicht – wohingegen bei Desinformation eine Täuschungsabsicht gegeben sein muss", sagt Philipp Müller von der Universität Mannheim. Der Begriff "Fake News" sei schwierig, weil er dazu beitrage, das Problem von Nachrichtenseiten, die Falschinformationen lieferten, zu überschätzen.

Die USA sind anders

Einig sind sich die Fachleute darin, dass Europa in der Frage der Falschinformationen nur bedingt mit den USA vergleichbar seien. Die Mediensysteme seien hierzulande widerstandsfähiger, sagt Hoffmann. "Tatsächlich zeigt die Forschung bisher, dass die USA unter den westlichen Ländern eher eine Ausnahme darstellen." In den USA sei die Polarisierung viel stärker. Das liege zum Teil auch an den staatlichen Medien in Europa. "Relativ sicher lässt sich sagen, dass Desinformation im engeren Sinne von 'Fake News', also bewusst gestreuten Falschmeldungen, die von ihrer Aufmachung als Nachrichteninhalte 'verkleidet' wurden, kein Hauptproblem unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Debattenführung darstellen", sagt Müller.

Möller betont die Rolle der klassischen Medien und warnt davor, die Rolle sozialer Medien beim Verbreiten von Desinformation überzubewerten. Die Tweets von Donald Trump etwa hätten sich vor allem über die klassischen Medien verbreitet. Ob sich durch die Übernahme von Twitter durch Elon Musk etwas daran ändert, sei ihrer Meinung nach schwierig zu beurteilen. Vor zwei Wochen hätte sie den Einfluss noch als gering eingeschätzt, sagt Möller. Doch der Rauswurf vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verändere die Lage womöglich, wenn Desinformationen nicht mehr gelöscht würden. Sie rechnet aber eher mit einer Abnahme der Bedeutung von Twitter, die auch den Schaden von Desinformation begrenzen würde.

Falschinformationen sind oft eine Frage des Standpunkts. Von der Verwendung des Begriffs "Fake News" raten Fachleute inzwischen ab.
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Josef Holnburger von der NGO Cemas warnt davor, das Problem der Desinformation zu unterschätzen. "Desinformation ist dann gefährlich, wenn sie gar nicht als Desinformation wahrgenommen wird. "In einer in diesem Jahr durchgeführten Studie habe man deshalb die Bevölkerung nicht nach der Wahrnehmung von Desinformation, sondern konkret nach der Zustimmung zu bestimmten Verschwörungserzählungen gefragt. Dabei hätten sich in Deutschland bis zu 19 Prozent zustimmend gegenüber prorussischen Verschwörungserzählungen geäußert. Die Bevölkerung sei also empfänglich für Falschinformationen, schließt man daraus.

Hoffmann betont aber, dass es keine klare Evidenz über den Einfluss russischer Desinformation auf Wahlen gebe. "Im Kontext des Krieges in der Ukraine ist in Europa durchaus russische Desinformation zu beobachten. Diese scheint allerdings bisher praktisch wirkungslos zu bleiben. Laut Umfragen haben viele Bürger Angst vor den Auswirkungen von Desinformation auf unsere Demokratie. Das ist kaum gerechtfertigt. Die hohe mediale Aufmerksamkeit für das Thema scheint den Eindruck einer starken Gefährdung zu erwecken. Hier ist ein gesundes Maß im Umgang mit dem Thema noch nicht gefunden."

Soziale Medien im Fokus

Große soziale Medien wie Twitter verwenden derzeit erhebliche Ressourcen auf das Moderieren von Inhalten, auch um Desinformation zu bekämpfen. Eine automatisierte Erkennung ist schwierig und wirft auch Fragen danach auf, wie falsche Informationen zuverlässig erkannt werden sollen und wer entscheidet, was "falsch" ist. In Österreich forscht eine Gruppe des AIT gemeinsam mit der APA an der automatisierten Erkennung solcher Informationen. Das Projekt nennt sich "defalsif-ai" und wurde vom Sicherheitsforschungs-Förderprogramm Kiras und dem Finanzministerium gefördert. Dabei wird besonderer Wert auf Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse gelegt, ein Bereich, der innerhalb der Forschungen zu künstlicher Intelligenz relativ neu ist. Bisher gab es kaum Möglichkeiten, Einblick in die Entscheidungsfindung von KI-Algorithmen zu nehmen. Auch hier soll die Letztentscheidung über Richtig und Falsch beim Menschen liegen.

Die Forschenden raten, das Phänomen zu akzeptieren und nicht überzubewerten. "Desinformation ist sehr ungleich verbreitet", sagt Hoffmann. "Es ist eine kleine Minderheit der Internetnutzer, die sehr viel Desinformation sieht und auch selbst verbreitet." In Summe sei die Verbreitung im Vergleich zu "guter" Information gering. Zudem sei die Skepsis gegenüber Informationen auf Social-Media-Plattformen sehr groß. "Im Kontext der Pandemie konnten wir beobachten, wie sich die Bürger vor allem etablierten, seriösen Medien zugewandt haben."

Die prominenteste als Desinformation geltende Erzählung ist die von der durch Joe Biden "gestohlenen" Präsidentschaftswahl. Sie hat sich innerhalb der Republikanischen Partei als Narrativ durchgesetzt, das auch von moderaten Kandidatinnen und Kandidaten vertreten wird.
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Eine Lanze für das "Randphänomen"

Möller wirbt dafür, Desinformation als Phänomen zu akzeptieren: "Eine Gesellschaft, in der man die Wahrheit nicht herausfordern kann, ist keine Demokratie", sagt Möller. Wichtig sei, ihr die richtige Bühne zu geben – als Randphänomen.

"Es gibt Desinformation – aus dem In- und aus dem Ausland. Aber es gibt keinen Anlass, unsere Demokratie dadurch als gefährdet zu betrachten", sagt Hoffmann, der betont, dass viele republikanische Kandidaten das Narrativ der "gestohlenen Wahl" nur nach außen hin teilen würden. "Selbst in den USA erlaubt die Studienlage bisher keine klare Aussage zur Auswirkung von Desinformation auf das politische System, was angesichts der Turbulenzen um Donald Trump überraschen mag."

Eine Beurteilung der tatsächlichen Gefahr von Desinformation für die Demokratie aus wissenschaftlicher Sicht steht also noch aus, Möller wünscht sich Zugang zu mehr Daten. Derweil wird in den USA gewählt. (Reinhard Kleindl, 5.11.2022)