Börsengänge waren heuer selten an der Wall Street – und sind auch meist gefloppt wie jener der Harley-Davidson-Tochter Livewire im September.

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Das Jahr 2022 wird als ein ausgesprochen schlechtes in die Börsengeschichte eingehen – sowohl Aktien als auch Anleihen mussten schmerzhafte Verluste hinnehmen. Die bekannten Aktienindizes verzeichneten ihre Jahreshochs bereits im Jänner, seitdem ging es in mehreren Wellen immer weiter bergab. Dabei kamen besonders Titel aus dem Technologiebereich, die zuvor den Aufschwung an Wall Street und Co jahrelang getragen hatten, unter die Räder. Der Befund ist eindeutig: Die Aktienbörsen befinden sich in einem sogenannten Bärenmarkt, also einer Phase anhaltend fallender Kurse.

Aber wie lange dauern solche Abwärtsbewegungen üblicherweise? Und wie weit können Dax, Dow und der Nasdaq-Technologieindex noch fallen, bis sie ihre Tiefs erreicht haben? Der Versuch einer Annäherung anhand mehrerer Faktoren:

·Konjunktur Angesichts der Auswirkungen des Ukraine-Kriegs, der global hohen Inflation und der Energiekrise in Europa dürfte klar sein: Um die globale Wirtschaft ist es nicht allzu gut bestellt. "Weltweit schwächt sich die Konjunktur ab, die Geldpolitik wird allerorts straffer, und das Risiko einer globalen Rezession steigt", sagt etwa Anlagestratege Andrea Siviero vom luxemburgischen Vermögensverwalter Ethenea. Für ihn ist eine Phase negativen Wachstums in den USA wahrscheinlicher geworden und in Europa fast unvermeidbar. Dafür sprechen auch die stark fallenden Frachtraten in der Containerschifffahrt: Nach Engpässen wegen der Corona-Krise hat der Wind gedreht und die Nachfrage ist seit September eingebrochen.

Für die Börse sind dies grundsätzlich keine guten Nachrichten: Denn in einer Rezession steigen die Unternehmensgewinne, anhand derer die Aktien bewertet werden, weniger stark oder sinken sogar. Allerdings nimmt die Börse die Entwicklungen der Realwirtschaft um einige Monate vorweg, womit der Eintritt einer Rezession bereits in den derzeitigen Kursen enthalten sein sollte. Sollte diese aber stärker und länger als erwartet ausfallen, kann dies für einen weiteren Abwärtsimpuls sorgen.

·Inflation "Erst eine Teuerung von fünf Prozent oder mehr geht mit erhöhten Risiken am Aktienmarkt einher", sagt Benjardin Gärtner, der bei Union Investment den Aktienbereich leitet. Derzeit gibt es zwar beiderseits des Atlantiks höhere Inflationsraten, nächstes Jahr könnten diese aber wieder deutlich zurückgehen. Die sich abzeichnende Rezession hat schon viele Rohstoffpreise, darunter auch Erdöl und Erdgas, wieder sinken lassen. Auch die Konsumlaune der Bevölkerung kühlt sich bereits deutlich ab.

·Zinsen Die Hoffnung vieler Börsenprofis beruht darauf, dass ein sinkender Inflationsdruck den derzeit starken Zinsanhebungszyklus in den USA und der Eurozone im nächsten Jahr verlangsamen oder sogar gänzlich stoppen wird. Steigende Zinsen sind aus zwei Gründen Gift für die Aktienmärkte: Sie machen Kredite und damit auch Investitionen teurer, was das Wachstum bremst. Zudem werden Zinsprodukte wie Anleihen verglichen mit den riskanteren Aktien attraktiver – schließlich konkurrieren auch die verschiedenen Anlageklassen um das Kapital der Investierenden.

·Bewertung Aber sind die Aktienmärkte eigentlich schon billig genug, um den Abwärtstrend zu brechen? Zumindest im historischen Vergleich noch nicht. Üblicherweise werden Aktien mit dem sogenannten Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) bewertet: Ein KGV von zehn bedeutet, dass der Wert eines Unternehmens seinem zehnfachen Jahresgewinn entspricht – also je tiefer das KGV, desto billiger die Aktie und vice versa.

Auf den marktbreiten US-Index S&P 500 umgelegt, bedeutet das Folgendes: Das KGV der erwarteten Gewinne der Indexunternehmen (in den nächsten zwölf Monaten) ist seit Jänner von etwa 21 auf derzeit 15,7 gesunken. Verglichen mit den Tiefstständen früherer Bärenmärkte ist das ein noch relativ hoher Wert, die Wall Street also noch nicht billig genug. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase der Jahrtausendwende drehte der Markt erst bei einem KGV von 13,5 nach oben, bei allen anderen Abwärtsphasen erst bei noch tieferen Werten. Dieser Rechnung zufolge müsste der US-Markt bis zu seinem Tief noch um mehr als zehn Prozent sinken. Allzu alt ist der laufende Bärenmarkt mit rund einem Jahr seit den Rekordhochs von November 2021 auch noch nicht. Zum Vergleich: Die Abwärtsbewegung nach der geplatzten Dotcom-Blase dauerte fast drei Jahre.

·Fazit Auch wenn es schön langsam vermehrt Grund zur Hoffnung gibt, die Aktienbörsen befinden sich in intakten Bärenmärkten und dürften ihre Tiefs voraussichtlich noch nicht erreicht haben. Allerdings ist es ohnedies sehr schwer bis fast unmöglich, den absoluten Tiefpunkt zu erwischen – und die Aktienmärkte wirken für langfristige Veranlagungen, also zumindest fünf Jahre, durchaus schon wieder aussichtsreich. Ebenso Aktien- oder Fondssparpläne, um regelmäßig zu den mittlerweile doch schon deutlich gefallenen Kursniveaus der Börsen zuzukaufen. (Alexander Hahn, 6.11.2022)