Bono singt am 8. Mai dieses Jahres für die Menschen in der Ukraine in der U-Bahn-Station Khreshatyk in Kiew.

EPA/ Oleg Petrasyuk

Im Mai dieses Jahres war bei Bono nicht viel los. Im Wesentlichen hat er nur in einer U-Bahn-Station in Kiew gemeinsam mit seinem Gitarristen The Edge ein Konzert gegeben und den Weltfrieden ersungen. Wer ein mittlerweile aus guten Gründen aus dem Netz getilgtes Video des Duos kennt, in dem die beiden zuvor im Jänner 2022 ihren alten Nordirlandkonflikt-Klassiker Sunday Bloody Sunday mit schwindender Stimme und Katholische-Jungschar-Wandergitarre versemmeln, um damit an den 50. Jahrestag des Derry-Massakers zu erinnern, weiß: U2 sollten nicht unverstärkt und ohne Soundeffekte an die Öffentlichkeit treten.

Hinter durch Echokammern, Hallgeräte, Phaser, Octaver und Verzerrer gejagtem Gebimmel und Halleluja-Erweckungs-Klampfen und brünstigem weißen Gospel in Großraumdiscokirchen verbergen sich recht einfach gestrickte Lieder und, sagen wir es vorsichtig, von zahlreichen Heiligen Schriften wie jenen von Bob Dylan (Apostel), Leonard Cohen (Evangelist), Johnny Cash (Zehn Gebote) und natürlich dem Alten und Neuen Testament geholte Inspirationen. Für Menschen, die in den 1980er-Jahren aufgewachsen sind, dient U2 ja ohnehin oft als Ersatzreligion. Und auch Bono selbst, so werden wir nun endgültig erfahren, sieht sein Leben ebenfalls als um die Dimension des Politischen erweiterte Rhythmusmesse.

Mächtig viel Effekte

Mit mächtig viel Effekten hat Bono nun auch seine Autobiografie Surrender. 40 Songs, eine Geschichte ausgestattet. Sie wurde diese Woche weltweit gleichzeitig veröffentlicht. Die Erde ist schön, es liebt sie der Herr: Unter einer globalen Umarmung tut es der vom für Flugverbindungen nach Kontinentaleuropa und Übersee geografisch bestens gelegenen jetset-freundlichen Gottesacker Dublin nicht. Die knapp 700 Seiten von Surrender sind fast so dick wie die Hälfte der Martin-Luther-Bibel. Die beinhaltet allerdings neben den üblichen Promis wie den Aposteln, einem römischen Statthalter oder Maria Magdalena und solchen Leuten nur wenig Glam.

Bono liebt die Bibel und hat im Laufe seiner Lebensgeschichte, die er in Surrender anhand von 40 eigenen Songs erzählt, so manchen flotten Bibelspruch auf Lager. Immerhin bezeichnet er Jesus als seinen Haberer und trifft auch seinen Stellvertreter, den Papst, um mit ihm über den Weltfrieden und Fußball zu sprechen. Bono anlässlich eines Besuchs im Gelobten Land am Ufer des Jordan: "Ich empfinde tiefe Ehrfurcht vor der poetischen Kraft der Heiligen Schrift, es ist, als könnte man sich dem Thema Gott nicht ohne Metapher nähern."

Bei Barack Obama und seiner Frau daheim in ihrer Bude in Washington DC verdrückt er sich dann auch einmal ins alte Schlafzimmer von Abraham Lincoln, um dort seinen Damenschwips auszuschlafen. Bill Clinton und George W. Bush sind ebenfalls alte Buddies. Schuldenentlastung der Dritten Welt, Weltklima, Weltfrieden, Weltumarmung. Hunger, Aids, Afrika. Flüchtlingspolitik, Entwicklungshilfe. Nur beim Thema Steuerflucht von U2 vom steuerfreundlichen Irland in einen noch freundlicheren Briefkasten in den Niederlanden wird Bono wortkarg, eine Bagatelle. Alle anderen Iren würden das schließlich auch tun. Wenn man sich selbst nicht liebt und nichts Gutes tut, kann man auch der Welt nichts Gutes angedeihen lassen.

Natürliche Bescheidenheit

Bono, so erfahren wir von Bono, ist zwar mitunter von Selbstzweifeln zart angekränkelt. Allerdings taucht er diese Phasen sehr selbst- und sendungsbewusst durch. Neben seiner natürlichen Bescheidenheit, die man beinahe als Demut empfinden könnte, und seiner "Kriegerbrust" zeichnet Bono vor allem ein Talent aus: "Ich dachte immer, meine Gabe sei es, die führende Melodie zu finden, nicht nur in der Musik, sondern auch in der Politik, in der Wirtschaft und ganz allgemein in der Welt der Ideen. Wo andere Harmonien oder Mehrstimmigkeit hören, bin ich schon immer besser darin gewesen, die führende Melodie im Raum zu entdecken, die Eingängigkeit, den klaren Gedanken. Vielleicht, weil ich es singen oder verkaufen musste." Ob diese Memoiren und Bekenntnisse redundant, oft kaum erträglich pathetisch und ein wenig banal sind? Aber ja.

Mit ihrem christlichen Rock ’n’ Roll haben U2 175 Millionen Tonträger verkauft. Musik findet spätestens seit dem Publicity-Debakel mit der Zwangsbeglückung des Albums Songs of Innocence 2014 für alle iTunes-Nutzer nur noch nebenbei statt. Ab 60 kurz noch die Welt retten. Das Leben als Rhythmusmesse. Apropos Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll. Bono ist seit 40 Jahren glücklich verheiratet. Er ist ein Lamm. Oh happy day! (Christian Schachinger, 5.11.2022)