Beim traditionellen Festzug wird eine 80 Kilogramm schwere Erntedankkrone in die Kirche befördert.

Foto: Helena Lea Manhartsberger

Der Legende nach sind die Wiener schuld. Liesinger Brauereiburschen sollen 1422 einen Perchtoldsdorfer Weinhüter bei der Bewachung der Weingärten überfallen und schwer verletzt haben. Nach seiner wundersamen Heilung wurde in einem Gottesdienst für seine Rettung gedankt – und geboren war ein Ritual. Seither sollen die Winzerfamilien in der niederösterreichischen Heurigengemeinde jährlich mit dem Weinhütereinzug Erntedank feiern. Schriftliche Belege über den Brauch existieren erst seit dem 18. Jahrhundert, am Sonntag wurde dennoch 600 Jahre Jubiläum gefeiert.

Im Mittelpunkt der Feierlichkeiten stehen die namensgebenden Weinhüter, umgangssprachlich "Hiata". Die Männer hatten früher die Aufgabe, die kostbaren Weintrauben in der Reifezeit vor Diebstahl und Wildschäden zu schützen. Die Aufsichtsfunktion verlor in den vergangenen Jahrhunderten an Bedeutung, der feierliche Erntedank ist geblieben. Junge Männer aus den ansässigen Weinhauerfamilien werden noch heute zu Hiatabuam und kümmern sich alljährlich um die Vorbereitungen für den Einzug.

Mit Pritschn in die Kirche

Die Männer sorgen für den ordnungsgemäßen Ablauf des Festes, dichten Gstanzln, basteln die Erntekrone, genannt "Pritschn", und vergeben die wichtigsten Funktionen beim Fest, wie die Kredenzmadeln und den Hiatavoda, einen Weinhauer aus der älteren Generation, der als Ansprechpartner gilt.

Geschmückte Pferde führen den Zug an, dahinter Blasmusik und Hiatabuam.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Beim Einzug selbst spielt dann der Pritschntrager eine zentrale Rolle. Er trägt unter anfeuerndem Juchzen seiner Hiata-Kollegen die 80 Kilo schwere Erntekrone durch den Ort zur Kirche und wieder zurück auf den Marktplatz. Ihm voran führen geschmückte Pferde und die Blasmusikkapelle den Zug an. Dahinter folgen die Hiatabuam in blauen Spenzern und Ehrengäste – beim Jubiläum war Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) dabei.

Gesellschaftlicher Höhepunkt

Für die Perchtoldsdorfer und vor allem die rund 40 Hauerfamilien in der Gemeinde ist das Fest der Höhepunkt des Jahres. Stolz erklären die Einheimischen Ablauf und Geschichte des Brauchs. Ein guter Teil der 15.000 Einwohner wirft sich alljährlich in Schale, verkostet nach der Messe in der rustikalen Kirche den angebotenen Jungwein und lauscht den Gstanzln. Wie der Heurigenbesuch zählt auch der Hiataeinzug zum gesellschaftlichen Pflichtprogramm. "Es ist natürlich ein Sehen und Gesehenwerden", meint ein gebürtiger Perchtoldsdorfer. "Da kommen alle zusammen."

Mehrere Hundert Menschen zieht das Fest jedes Jahr an, am Sonntag wurden rund 5000 gezählt. Nicht nur aus Perchtoldsdorf, auch aus dem gesamten Bezirk Mödling, anderen Teilen Niederösterreichs sowie der angrenzenden Bundeshauptstadt Wien reisten Interessierte an. Es sei besonders, wie Brauchtum hier gepflegt werde, meint eine Frau aus Tulln, und zudem biete das Fest ein gutes Schönwetterprogramm.

Der Perchtoldsdorfer Marktplatz ist beim Hiataeinzug alljährlich gut besucht.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Seit 2010 ist der Hiataeinzug in das österreichische Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden. Dadurch erlangte der Brauch noch einmal zusätzliche Bekanntheit. Die Tradition habe wohl wegen des großen Zusammenhalts im hiesigen Weinhauerstand gehalten, mutmaßen die einen. Für die landwirtschaftlich geprägte Gemeinde sei zudem Erntedank ein Fixpunkt im Landwirtschaftsjahr. Andere hängen der Theorie an, dass sich die bäuerliche Tradition wegen der Nähe zur Großstadt so lange gehalten hat.

Ungeliebte "Zuagraste"

Die wenigsten Einheimischen haben im Wiener Speckgürtel eine Freude mit den Städtern, die aufs Land drängen. Die Nähe zur Stadt verbunden mit der Idylle im Grünen ist jedoch für viele Wiener ansprechend, als "Zuagraste" wie auch für einen Zweitwohnsitz – dementsprechend hoch sind in Perchtoldsdorf die Grundstückspreise, nirgendwo in Niederösterreich kostet der Grund mehr.

Dass sich die Wiener Hautevolee dann beim Hiataeinzug im neuesten Dirndl zeigt, stößt einigen Perchtoldsdorfern sauer auf. Umso mehr macht es sie stolz, dass in der Heurigengemeinde auch der Weinhauernachwuchs die Tradition am Leben erhält. Die Treue, mit der diese Tradition geführt wird, begeistert zudem auch Wienerinnen und Wiener, die sich das Erntedankfest jedes Jahr ansehen. Auch wenn womöglich letztendlich Liesinger Brauereiburschen zu danken ist. (Davina Brunnbauer, 6.11.2022)