Lieber Armin Thurnher, Medienpolitik ist nicht gerade ein medialer Renner. Umso erfrischender war es, als wir uns unlängst eine Debatte über mehrere Runden lieferten zum Thema der "blauen Seiten", also von news.orf.at. Ich möchte auf Ihre Antworten zu meiner Position noch einmal eingehen.

Sie beklagten, dass sich Österreichs Bürgertum selbst auslöschen würde, wenn die blauen Seiten, wie von ORF-Generaldirektor Roland Weißmann angekündigt, pro Tag 60 statt bislang 120 Textmeldungen, dafür aber mehr Video bringen. Ich hielt dem entgegen, dass dies der richtige Ansatz sei, weil textbasierte Nachrichten für den ORF von weit geringerer Bedeutung sind als für private Verleger und der ORF ein neues, jüngeres Publikum erreichen muss – und das konsumiert eben mehr Video.

Das "ORF Network", wie die Seiten von der österreichischen Web-Analyse genannt werden, hat mit Abstand die größte Reichweite in Österreich. Auf welche Bereiche des ORF sie sich aufteilt – auf die blauen Seiten, die gelben (Sport) und auf andere Teile des ORF-Netzwerks –, ist nicht ausgewiesen. Ich würde vermuten, dass Gebührenzahler online überwiegend Zeit mit der TVthek und Audio-Apps wie Ö3 verbringen. Das wäre folgerichtig, da das Audiovisuelle die Kernkompetenz des ORF ist, nicht die Textinhalte der blauen Seiten. Diese werden von einer eigenen kleinen Redaktion bespielt, die sich bisher kaum mit den Ressorts des ORF koordiniert.

Der ORF muss wieder zu einem Medium für alle werden.
Foto: imago images/SEPA.Media/Martin Juen

Die 120 Meldungen pro Tag sind in den letzten Jahren angewachsen, vor Covid waren es 80 bis 90 pro Tag, wie mir ORF-Quellen versichern. Die Art der Beiträge sei durch eine Stichprobe (29. Oktober, später Nachmittag) illustriert: Von den 42 Meldungen waren 27 redaktionell adaptierte Agenturmeldungen, nur eine mit ZiB-Video- und eine mit Ö1-Journal-Audiomaterial angereichert; zwölf Meldungen von Landesstudios; und drei (!) Meldungen mit originalen Inhalten der Redaktion der blauen Seiten. Diese drei waren bemerkenswert, zum Beispiel die Rezension eines neuen Films auf der Viennale, The Listener von Steve Buscemi. Weder DER STANDARD noch Die Presse brachten dazu Rezensionen, der Falter hatte eine kleine Meldung. Die kulturelle Rettung des Abendlandes kann aber nicht wirklich von dieser Art Beiträge, so schön sie auch sind, abhängen.

Schule der Nation

Sie, lieber Armin Thurnher, vermissen einen ORF als Schule der Nation, mit Gerd Bacher als Direktor und Hugo Portisch als Oberstudienrat. Das ist etwas gönnerhaft, aber ich teile Ihre darin implizierte Sicht, dass es Aufgabe des ORF ist, übergreifend und unaufgeregt das Zeitgeschehen abzubilden und einzuordnen, durchaus auch, wie Portisch, kommentierend und darüber hinaus den "Verstand für Neues zu öffnen, Fantasie anzuregen". Zu Bachers Zeiten war Fernsehen neu und cool, ein Medium, das alle Generationen versammeln konnte; das gibt es nicht mehr. Es kann auch nicht mehr "eine" Schule der Nation geben. Allein Youtube liefert, jederzeit gratis abrufbar, mehr Video zu Fachthemen, als der ORF jemals produzieren oder kaufen kann.

Die Zukunft des ORF kann nicht darin liegen, Text auf Webseiten zu liefern – so wenig wie zu Bachers Zeiten, als es gar kein Textangebot des ORF gab. Es gilt, diejenigen zu erreichen, die vorwiegend auf sozialen Medien, primär audiovisuell, unterwegs sind.

Über 50-Jährige sollten nicht in den jahrtausendealten Fehler der Generationenverbitterung verfallen, die den "Niveauverlust" ihrer eigenen Nachkommen beklagt. Natürlich ändern sich die Dinge. Soziale Medien formen Weltbild, Meinungen und Verhalten. Aber es wäre abstrus zu meinen, dass sie nur Kloaken oder Endlosschleifen für Katzenvideos bieten.

Einer der großen Trends auf Tiktok ist #BookTok, das weltweit bereits 73 Milliarden Aufrufe hatte und dazu beiträgt, bislang vielleicht unbekannte Autorinnen und Bücher einem Millionenpublikum zugänglich zu machen. Jüngere Menschen denken und leben anders, konsumieren und kommunizieren anders. Sie verspielen ihre Zukunft nicht, weil sie Zeit auf BeReal und Instagram verbringen und ihr Studium auch mithilfe von Youtube bewältigen. Genauso wenig wie unsere Generation verblödete – wie unsere Eltern uns glauben machen wollten –, weil viele von uns Pink Floyd hörten, lange Haare trugen, kifften und Sex vor der Ehe hatten.

Die Diskussion um die blauen Seiten ist eine Nebelpetarde. Sie lenkt Energie ab von wesentlich wichtigeren Weichenstellungen. Zum einen, woher das Geld für den ORF kommt: im besten Fall von einer Haushaltsabgabe, die seine Unabhängigkeit fördert, im schlechtesten Fall aus dem Budget mit dem Risiko, dass der ORF zum Regierungsfunk wird.

Zum anderen: Wen soll der ORF versorgen? Die, die ohnehin gerne und viel klassische Medien konsumieren, Journal hören und auch gerne bereit sind, GIS zu zahlen? In diesem Fall würde für den ORF Geradeausfahren reichen, mit sanften Anpassungen des existierenden Angebots. Aber auch historisch fällt mir kein Medium ein, in dem das Beharren auf Altem und die Sehnsucht nach Vergangenem zu Gutem geführt hätte.

Ich glaube, der ORF hat Zukunft, wenn er wieder zum Medium für alle wird, Budget umschichtet von der Verwaltung und leicht privat ersetzbarem Material zu mehr – österreichischer – Inhalteproduktion; sich an veränderte Lebensumstände anpasst; und ja, auch für Freaks Angebote macht. Der ORF braucht Innovation, die Eroberung neuer Formate und neuer Kanäle und Mut – wie ein Tiger. Unterstützen wir ihn dabei. (Veit Dengler, 7.11.2022)