Dank natürlicher Mumifizierung ist Ötzi für die Nachwelt erhalten geblieben und heute das wohl bestuntersuchte prähistorische Fundstück.
Foto: Südtiroler Archäologiemuseum/EURAC/Samadelli/Staschitz

Er ist nicht nur der berühmteste Südtiroler, sondern auch die wohl bestuntersuchte Leiche der Erde: Der Mann aus dem Eis – vulgo "Ötzi" – wurde vor 31 Jahren zufällig von einem deutschen Ehepaar im Urlaub entdeckt. Selbst hätte sich der Ötztal-Reisende kaum vorstellen können, welch länder- und disziplinenübergreifende Forschungsanstrengungen er nach seinem Tod hervorrufen würde. Diese gehen weit über die Diskussionen, ob er sich auf der österreichischen oder der italienischen Seite der Grenze befand, hinaus: Hunderte Fachleute aus aller Welt haben sich mit der Eismumie befasst, die altersmäßig mit rund 5.300 Jahren die Pyramiden von Gizeh und Stonehenge übertrifft.

Unweit der österreichisch-italienischen Grenze wurde der Eismann entdeckt. Zunächst waren sich die Behörden uneinig, in wessen Gebiet er fällt. Heute ist klar, dass sich die Fundstelle auf italienischem Boden befindet.

Durchgesetzt hat sich dabei die Erzählung, dass es nur eine "schier unglaubliche Zufallskette" möglich machte, den "Mann aus dem Eis" durch natürliche Prozesse derart lang zu konservieren. So schreibt es das Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen, wo Ötzi aufbewahrt und ausgestellt wird, auf seiner Website. Bisher lag die Vermutung nahe, dass der Eismann im Herbst verstarb – denn dann hätte sein Leichnam dank Schneefalls rasch von einer eisigen Decke umhüllt werden können, um ihn erst Jahrtausende später wieder ans Licht zu bringen.

Doch die Zweifel an dieser Annahme sind gewachsen. Nun erschien eine Neubewertung des legendären Falles, die einer Aussendung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zufolge dafür sorgt, dass die offizielle Geschichte der Eismumie "teilweise umgeschrieben werden" müsse. Beteiligt war die Innsbrucker Gletscherforscherin Andrea Fischer: Mit Eisbohrkern-Untersuchungen in der Nähe des Fundorts auf dem Tisenjoch half sie schon vor zwei Jahren dabei, Indizien in diese Richtung zu sammeln und somit ein vollständigeres Bild von Ötzis Zeit im Eis zu zeichnen. Es zeigt: Die Umstände der Konservierung waren wohl weniger spektakulär als angenommen. Dies heißt aber auch, dass wir uns aus dem klimawandelbedingt tauenden Eis noch wichtige Funde erhoffen können.

So ähnlich könnte der Eismann ausgesehen haben, der im Alter von 40 bis 50 Jahren tödlich von einem Pfeil getroffen wurde.
Foto: Südtiroler Archäologiemuseum/Ochsenreiter

Tod in der ersten Jahreshälfte

Wie das internationale Forschungsteam im Fachblatt "The Holocene" schreibt, starb Ötzi nicht wie gedacht am unmittelbaren Beginn einer Kälteperiode. Noch rund 1.500 Jahre nach seinem Tod dürften er und die Objekte, die er mit sich führte, immer wieder für wenige Tage aufgetaut und wieder eingefroren sein. "Es ist davon auszugehen, dass der Prozess bis zur Bildung eines Gletschers mehrere Jahrzehnte bis Jahrhunderte gedauert hat", sagt Fischer, die als Glaziologin am Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW forscht, im STANDARD-Gespräch.

Wahrscheinlicher ist demnach ein Tod im Frühling oder frühen Sommer. Das zeigen nicht nur frühere Pollenanalysen. Es ist auch plausibler, dass der vom Pfeil getroffene und verblutete Eismann auf einer Schneedecke starb, die erst in späteren Sommermonaten abtaute. Dabei hilft der Vergleich mit der Situation 1991, als Ötzi immerhin wieder zum Vorschein kam.

Mögliche Entdeckungsfenster

Wie die Studie zeigt, konnte der Eismann in jenem Jahr nur innerhalb eines kurzen Zeitfensters gefunden werden. Damals wurde etwa die Hälfte seines Kopfes aus dem Eis gelöst. "Kurze Zeit später wäre schon wieder der Schnee gekommen", sagt Fischer. Mit ihrem Team ermittelte sie, dass sich erst etliche Jahre später an dieser Stelle weitere Eis- und Zeitfenster geöffnet hätten, um Ötzi freizugeben: im Jahrhundertsommer 2003 sowie im ebenfalls heißen Jahr 2015.

Ein Teil des Oberkörpers ragte am 19. September 1991 aus dem Eis.
Foto: Helmut Simon/Erika Simon

Wäre die Eismumie eines Frühjahrs im späten 20. Jahrhundert verstorben, wäre sie nach dem tödlichen Pfeiltreffer auf einer rund sechs Meter dicken Schneeschicht zum Liegen gekommen. "Unter Klimabedingungen wie in den 1990er-Jahren gehen dort über den Sommer etwa vier Meter Schnee verloren", erklärt die Glaziologin.

Aussagekräftige Accessoires

So tief sei der tote Körper wohl abgesunken – entgegen der Annahme, dass er direkt in der Mulde starb, in der man ihn später fand. Das eigenartige Abwinkeln des Armes, das Ötzis Silhouette so unverwechselbar macht, ist aber nicht auf spätere Bewegungen im Eis zurückzuführen, betont der Schweizer Archäologe Thomas Reitmaier, der ebenfalls an der Studie beteiligt war: Die Gegebenheiten an der tödlichen Pfeilschusswunde sprechen dafür, "dass sich der Eismann beziehungsweise die Position des linken Armes um oder nach dem Tod nicht mehr groß bewegt hat". Das sei das Hauptargument gegen die Theorie, der Mann aus dem Eis könne im Tal mumifiziert und zur Bestattung auf den Berg gebracht worden sein.

Auch der Fellhut des Mannes hat sich in einer Eisschicht gut erhalten.
Foto: Andreas Lippert

Beim Absinken des Körpers in die Rinne konnten durch Schmelzszenarien auch einige der Artefakte der Fundstelle unterhalb des Körpers zum Liegen kommen, obwohl sie ursprünglich zu einer jüngeren Schicht gehörten, hält das Forschungsteam fest. Zu den beeindruckendsten Objekten im Fundkomplex gehören nicht nur mehrere Kleidungsstücke wie eine Fellmütze, ein Lendenschurz aus Leder und gefütterte Schuhe, die erstmals Einblick in die Modeaccessoires dieser Zeit lieferten, die tierischen Ursprungs sind und sich an anderen Orten längst zersetzt haben. Der Eismann führte zudem beispielsweise eine Rückentrage und diverse Waffen mit sich. Das Beil mit Kupferklinge lieferte den Hinweis, dass schon früher als gedacht Metall verarbeitet wurde. Außerdem fand man einen unvollendeten Bogen, Pfeile und einen Dolch.

Der "heilige Gral"

"An den Artefakten gibt es auch Zerstörungen, die früher auf einen Kampf zurückgeführt wurden", sagt die Glaziologin. Aus ihrem Arbeitsalltag ist ihr aber ein ähnliches Phänomen bekannt: Die Messeinrichtungen in Eis und Schnee tragen vergleichbare Spuren davon. Archäologinnen und Archäologen aus Norwegen und anderen Ländern beobachteten ebenfalls zerbrochene Fundobjekte. Erstmals weist die Studie mit empirischen Daten dieser Fundstellen darauf hin, dass die Schäden an Ötzis Werkzeug wohl auch nicht von einer Auseinandersetzung herrühren, sondern durch den sich verändernden Druck in Eis und Schnee entstanden sind – also durch natürliche Prozesse.

Auch einen Köcher mit Pfeilen spürte man 1991 am Fundort auf. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass Ötzi auf dem Schnee starb. Körper und Utensilien schmolzen erst später in jene Vertiefung, in der ihn das Ehepaar Simon fand.
Foto: Gernot Patzelt

"Ötzi ist der heilige Gral der Eis- und Gletscherarchäologie", sagt der norwegische Archäologe und Erstautor Lars Pilø. "Die ursprüngliche Geschichte, wie er durch eine Reihe glücklicher Umstände konserviert wurde, ist sowohl attraktiv als auch faszinierend." Doch wie das Team in der Studie zeigt, ließen sich einige Charakteristika der Erhaltung im Eis seiner Ansicht nach besser erklären. Dies war nur möglich, weil sich das Fach in der Zwischenzeit stark weiterentwickelt hat und zusätzliche Funde aufgetaucht sind – unter anderem das 1.300 Jahre alte Paar Ski aus Norwegen, das den bisher am besten erhaltenen prähistorischen Ski-Fund darstellt. Pilø selbst war an der Einschätzung der Objekte im vergangenen Jahr beteiligt.

Keine "Laune der Natur"

Im Gegensatz zu Behauptungen früheren Studien sei es unwahrscheinlich, dass sich der Mann aus dem Eis unter einem sich bewegenden Gletscher befand und selbst von einem solchen transportiert wurde – dafür dürfte der Bereich zu flach sein. Pilø fasst zusammen: "Unsere Neubewertung der Beweise zeigt, dass Ötzi durch normale Prozesse an eiszeitlichen archäologischen Stätten konserviert wurde, nicht durch eine 'Laune der Natur'."

Was genau bedeutet es, wenn der Fund nicht, wie bisher geglaubt, nur auf ein extrem seltenes Ereignis zurückzuführen ist? Wie das Team darstellt, gebe es immerhin keine eindeutigen Indizien dafür, dass Ötzis Tötung mit einem plötzlichen Abkühlen des Klimas zusammenfiel. Wie Andrea Fischer betont, kratzt dies keineswegs an der Bedeutung des Eismanns: "Im Gegenteil: Wir lernen für die Gletscher- und Klimaforschung nach wie vor wahnsinnig viel aus diesem Fund."

Noch immer übt der Mann aus dem Eis eine starke Faszination aus. Dies wird durch die neuen Erkenntnisse nicht geschmälert.
Foto: Südtiroler Archäologiemuseum/Ochsenreiter

Aus den Eisbohrkernen allein ließen sich zwar Schlüsse für die Klimawandelfolgen während der Jahrtausende mit Eis ziehen, aber nicht für jene ohne Eis. Ötzi wurde jedoch während einer wärmeren Periode natürlich mumifiziert. Fachsprachlich heißt die Epoche "holozänes Optimum", was keine Wertung oder Optimaltemperatur beschreiben soll, sondern nur relativ hohe Temperaturen im globalen Durchschnitt. Am Ende dieser Warmzeit vergletscherten einige Regionen wieder.

Wie diese Klimaveränderung genau die Landschaften veränderte, lässt sich mit der Hilfe von Eisbohrkernen nicht sagen. Die Datierungen der Artefakte in Ötzis Nähe, die auf verschiedene Abtau-Ereignisse hinweisen und durch Pollenspuren weitere Hinweise auf die damaligen Landschaften liefern, demonstrieren aber: Es kann mehrere Jahrhunderte dauern, bis ein kontinuierlicher Eisbrocken entsteht, sagt Fischer.

"Da kommt sicher etwas"

Die steigenden Temperaturen, die mit der aktuellen Klimakrise einhergehen, haben wenigstens für die Archäologie einen gewissen Vorteil. Immer mehr eingefrorene Artefakte können entdeckt werden. Zu den wichtigen Funden in der Nähe des Ötztaler Wanderers zählt ein beinahe 6.000 Jahre alter Schneeschuh, der eine ähnlich skurrile Fundgeschichte hat wie der Eismann selbst. Er hing nämlich über zwölf Jahre im Büro eines Kartografen. Dieser war zufällig bei Vermessungen im Gebirge auf das Objekt gestoßen, verschätzte sich massiv im Alter des Schneeschuhs und hob ihn wenigstens auf – bis er vor sieben Jahren die Bedeutung erahnte.

Heute ist die Fundstelle am Tisenjoch eisfrei – 1989 war sie noch mit Schnee und Eis bedeckt, wie diese Luftaufnahme zeigt. Unten rechts deutet ein schwarzer Pfeil zum Fundort des Leichnams.
Foto: Gernot Patzelt

Bis zu 6.000 Jahre alt könnten mögliche weitere Objekte und Leichen sein, die bisher im doch nicht ewigen Eis verborgen sind. Fischer und ihre Kolleginnen und Kollegen haben bereits einige Vermutungen, wo sich neue, alte Artefakte – und potenziell auch weitere menschliche Überreste – zeigen könnten. Diese Bereiche stehen unter besonderer Beobachtung, darunter ein acht Meter tiefes Eisfeld. "Da kommt sicher etwas", ist Fischer überzeugt. Auch Thomas Reitmaier wittert weitere Funde an den hochalpinen Pässen: "Diese Hochgebirgskämme waren in der Regel über viele Jahrtausende hinweg wichtige Korridore für die menschliche Mobilität."

Bedrohung Klimakrise

Gleichzeitig schwingt bei der freudigen Erwartung immer eine bittere Note mit. "Schon vor Ötzi, aber vor allem nach 1991 haben die Entdeckungen von glazialen archäologischen Stätten in den Alpen aufgrund des Klimawandels deutlich zugenommen", unterstreicht Reitmaier. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. Selbst dort, wo der älteste Eisbohrkern geborgen wurde, ist die Dicke der Eisschicht auf zehn Meter gesunken – und pro Jahr geht etwa ein Meter verloren, sagt Fischer. Sie nimmt seit diesem Jahr auch im Sommer Eisproben, obwohl dies normalerweise im Winter geschieht. Zu groß ist das Risiko, dass einige Eisfelder im Winter gar nicht mehr einfrieren.

Videoreportage: Andrea Fischer versucht möglichst viel Information zu sichern, bevor die Gletscher verschwinden.
DER STANDARD

Die Wandelbarkeit des Materials, die die Glaziologin so sehr an ihrer Arbeit fasziniert, wird für wachsende Herausforderungen sorgen. Kälteliebende Pflanzen, die von wärmeliebender Konkurrenz verdrängt werden, können die Bodenbeschaffenheit so ändern, dass Lawinen- und Murenabgänge immer öfter vorkommen. "Wir gehen in eine wärmere Zukunft", sagt Fischer. "Die Ostalpen könnten zwischen 2050 und 2070 schon eisfrei sein." Dann breche temperaturtechnisch eine ähnliche Ära an, wie sie auch Ötzi und seine Vorgängergenerationen erlebten.

"Jetzt wollen wir natürlich möglichst viel über diese Epoche wissen." In Zusammenarbeit mit Fachleuten aus unterschiedlichsten Bereichen – wie sie der Eismann seit rund 30 Jahren zusammenführt – werden mit fortschreitender Technik auch weiterhin neue Erkenntnisse darauf warten, gelüftet zu werden. (Julia Sica, 7.11.2022)