Für wen die kleine, alte Frau den großen, jungen Milliardär hält, fasst sie in vier Worten zusammen: "Dieb, Verräter, Hure Moskaus." Das Megafon, das ihre Botschaft auf die andere Seite des Boulevards Ştefan cel Mare hinüberträgt, sei schon ihr zweites, erzählt Nina Rosuvano während einer Atempause. Das erste hätten ihr die Leute von drüben zuerst aus der Hand gerissen und dann kaputtgeschlagen. "Direkt vor dem Präsidentenpalast war das. Vor zwei Wochen."

In den letzten Tagen und Wochen häufen sich die Proteste gegen die Regierung.
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Um sie herum steht ein halbes Dutzend Frauen, die den Übergriff bestätigen. Sie sind alle im gleichen Alter wie Nina: 70 plus, zwei davon über 80. Wie sie es sich erklären, dass auf der anderen Seite der Prachtstraße von Chișinău hunderte Junge für einen rechtskräftig verurteilten, flüchtigen Ex-Parteichef demonstrieren, dessen Untergebene im Parlament bis heute für alles stimmen, was sich der Kreml wünscht? Die Antwort kommt aus allen sechs Mündern gleichzeitig. So laut, dass sie sogar den Feierabendverkehr übertönen, der sich an einem der letzten warmen Herbstnachmittage den Hauptstadtboulevard hinauf- und hinunterwälzt: "Weil sie dafür bezahlt werden! So funktioniert das bei uns hier in der Moldau! Eine Schande!"

Eine von ihnen zieht ihr Smartphone aus der Tasche und zeigt ein Video, das zwei Tage zuvor auf der anderen Straßenseite aufgenommen wurde. Darin erzählen zwei sichtlich betrunkene, aus der Kleinstadt Orhei stammende junge Männer, wie viel sie von den lokalen Statthaltern des 2019 nach Israel geflüchteten Oligarchen Ilan Shor dafür bekommen, gegen die prowestliche Regierung unter Präsidentin Maia Sandu zu demonstrieren: zwischen 20 und 40 Euro am Tag. 80 für jede Nacht, die sie in gratis zur Verfügung gestellten Zelten verbringen.

"Echte" Männer

Gutes Geld in einem Land, in dem der Durchschnittsverdienst um die 550 Euro im Monat liegt. Laut Nina bildet das finanzielle Interesse aber nur einen Teil der Motivation der Demonstranten: "Sie sagen, dass es ihnen um die Strom- und Gaspreise geht und um die Inflation. Aber was sie wirklich wollen, ist, dass die Frauen wieder gehorchen. Wie damals in der Sowjetunion, als nur die Männer das Sagen hatten. Deshalb lieben sie Putin. Weil sie glauben, dass er ein echter Mann ist. Pfffft. Lächerlich!"

Warum Nina und ihre Freundinnen trotz stetig sinkender Temperaturen nicht müde werden, den ihnen zahlenmäßig überlegenen prorussischen Demonstranten auf den Straßen Chișinăus ihre Parolen entgegenzuwerfen: "Uns wird nicht kalt. Wir müssen um jeden Preis verhindern, wieder Teil Russlands zu werden. Für unsere Kinder und unsere Enkel. Ich bin 71 und habe die meiste Zeit in einer sowjetischen Traktorfabrik gearbeitet. Das hier ist nichts dagegen."

Bis vor kurzem glaubte sie in diesem Punkt die Mehrheit ihres Landes hinter sich. Nach dem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen fuhr die Partei Maia Sandus, einer in den USA akademisch ausgebildeten Ex-Weltbank-Mitarbeiterin, auch bei den Parlamentswahlen im Sommer vergangenen Jahres eine absolute Mehrheit ein. Wie indes der Drahtseilakt ausgehen wird, den ihre Regierung seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine vollführt, scheint im Herbst 2022 trotz EU-Beitrittsperspektive noch offen.

Besonders viele Flüchtlinge

Auch wenn sie direkt ans Kriegsgebiet grenzt und mit rund 100.000 im Pro-Kopf-Verhältnis bisher die meisten Flüchtlinge aufnahm, stellten sich die Probleme der Republik Moldau angesichts der kriegsbedingten globalen Verwerfungen bis vor kurzem noch als vergleichsweise gewöhnlich dar.

Überdurchschnittlich viele Flüchtlinge aus der Ukraine nimmt die Republik Moldau auf.
Foto: EPA/DUMITRU DORU

Seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 und dem Bürgerkrieg um Transnistrien ein Jahr später, dem eine De-facto-Teilung des Landes folgte – bis heute sind in der abtrünnigen Provinz östlich des Dnister russische Soldaten stationiert, deren Truppenstärke zwischen 1.500 und 2.000 liegen soll –, gilt es als Armenhaus Europas. Seit drei Jahrzehnten leidet seine Bevölkerung unter praktisch allen Problemen, die die Mehrheit der postsowjetischen Gesellschaften bis heute kennzeichnen. Allem voran an einem nahezu unheimlichen Ausmaß an Korruption. Letzteres bereitete einem Oligarchen-Unwesen den Weg, das dem in Russland und in der Ukraine in nichts nachstand.

Entsprechend verließen die Menschen das Land, das seit Ende Juni im Rang eines EU-Beitrittskandidaten steht, in Massen. Obwohl es diesbezüglich keine verlässlichen Statistiken gibt, leben heute geschätzt zwischen einer und zwei Millionen gebürtige Moldauer und Moldauerinnen im Ausland – bis zur Hälfte der rund 2,6 Millionen zählenden Bevölkerung.

Einfluss Russlands

Wie groß der Anteil des Kreml an dieser Entwicklung ist, deckte jetzt unter anderem die "Washington Post" auf, der Einblick in bisher unter Verschluss gehaltene Dokumente des ukrainischen Geheimdienstes gewährt wurde. Nämliche belegten, was in Chișinău als offenes Geheimnis galt: dass der russische Geheimdienst FSB bis heute eine entscheidende Rolle im politischen wie im wirtschaftlichen Leben des Landes spielt.

Kürzlich belegte die US-Regierung auf Basis der neuen Erkenntnisse 21 Personen mit Einreiseverboten und Sanktionen. Die prominentesten Aushängeschilder: die Milliardäre, Ex-Medienmogule und Ex-Parlamentarier Ilan Shor und Wladimir Plahotniuk. Obwohl politisch gegensätzlich gepolt – der 35-jährige Shor gilt dem FSB wörtlich als "wertvoller, langfristiger Partner", während der ebenfalls 2019 aus dem Land geflohene Plahotniuk als Politiker einen prowestlichen Kurs verfolgte (der 56-Jährige lebt heute in der Türkei) –, betrachteten beide die Republik Moldau jahrzehntelang praktisch als Selbstbedienungsladen.

Alina Radu gilt seit Jahrzehnten als die führende Investigativjournalistin ihres Landes.
Foto: Klaus Stimeder

Die Tatsache, dass sie seit drei Jahren den Boden ihrer Heimat nicht mehr betreten haben, hat an ihrem Einfluss lange nichts geändert. "Das ist der Grund, warum sie sich jetzt derart heftig wehren und ihre Leute auf die Straße schicken. Es ist ihr letzter Kampf – und sie wissen das. Wenn sie ihn verlieren, ist es vorbei mit ihnen", sagt Alina Radu.

Die Mitbegründerin und Herausgeberin der Zeitung "Ziarul de Gardă", die ihr Journalismusstudium ein Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer abschloss, gilt seit Jahrzehnten als die führende Investigativjournalistin des Landes. Es waren ihre Reporter, die aufdeckten, dass die Demonstranten, die seit Ende September aus Dörfern und Kleinstädten aus dem ganzen Land per Bus nach Chișinău kommen, um dort buchstäblich ihre Zelte aufzuschlagen, von Ilan Shor dafür bezahlt werden.

Kollateralschaden des Ukraine-Krieges?

An der Angst, dass die Republik Moldau bald direkt oder indirekt zum Kollateralschaden des Krieges gegen die Ukraine werden könnte – erst am Montag schlug eine russische Cruise-Missile im nördlichen Grenzdorf Naslavcea ein –, ändert das Radus Meinung nach nichts: "Dank der jahrzehntelangen, systematischen Korrumpierung der politischen Eliten war unser Land bis vor kurzem zu hundert Prozent von russischem Gas abhängig. Erst die Sandu-Regierung versucht das endlich zu ändern. Aber das braucht Zeit."

Zeit, die es in der Republik Moldau, wo die Menschen nicht nur vom Gas des Kreml, sondern auch vom daraus gewonnenen Strom abhängig sind, nicht gibt. Das wichtigste Kraftwerk des Landes steht in Transnistrien. Der landläufig als sowjetisches Freilichtmuseum bekannte Landstrich mit seiner knapp halben Million Einwohner wird von dem russischen Oligarchen Viktor Gushan und seinem Sheriff-Konzern kontrolliert. Wie sein Herr in Moskau ist der 60-jährige Gushan ein ehemaliger KGB-Agent. Vor wenigen Tagen stellte das Kraftwerk seine Lieferungen in den nicht russisch besetzten Teil der Moldau erstmals vorübergehend ein.

Entsprechend hält sich die Zuversicht – dass sich die Bemühungen der Sandu-Regierung auszahlen, allen voran mithilfe des großen Nachbarn Rumänien die Abhängigkeit von Russland zu verringern – auch bei denen in Grenzen, die die kulturelle Elite des Landes repräsentieren.

Schriftsteller Iulian Ciocan: "Am Ende bleibt unsere einzige Hoffnung, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Und der ist noch lange nicht entschieden."
Foto: Dirk Skiba

Hoffen auf Kiew

"Am Ende bleibt unsere einzige Hoffnung, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Und der ist noch lange nicht entschieden", sagt Iulian Ciocan. Der 54-Jährige ist der gegenwärtig meistübersetzte Schriftsteller aus Moldau. Während deutschsprachige Übersetzungen seiner von beißender Gesellschaftskritik durchsetzten Romane noch auf sich warten lassen, sind sie bisher unter anderem im Vereinigten Königreich, in Frankreich, den Niederlanden und der Tschechischen Republik erschienen.

Ciocans publizistische Leitmotive bilden die in der Moldau alles verschlingende Bestechlichkeit und die ständige Bedrohung durch Russlands Großmachtstreben; Themen, die seiner Meinung nach nicht nur zusammenhängen, sondern einander bedingen. Beides stellt er etwa in seinem 2017 erschienenen Roman "Die Königin der Herzen" anhand einer drastischen Metapher dar. Am Anfang des Buchs stößt sein Protagonist, ein durch und durch korrupter Funktionär der Hauptstadtverwaltung, in seinem Garten auf ein Loch, das im Laufe der Handlung immer größer wird und am Ende ganz Chișinău verschlingt.

"Was der Westen verstehen muss, ist, dass der Einfluss Russlands die Hauptursache der Korruption in der Moldau ist. Korruption ist die Essenz dessen, was die sogenannte russische Welt ausmacht, zu deren Teil Putin uns machen will", sagt Ciocan: "Wenn er entsprechend nicht gestoppt wird, wird uns sein System verschlingen. Und ich fürchte, nicht nur uns." (Klaus Stimeder aus Chișinău, 8.11.2022)