Nahe dem Gasometer, einem Simmeringer Wahrzeichen, gerieten im Sommer 2020 zwei Gruppen aneinander, wobei ein Mann lebensgefährlich verletzt wurde. Zweieinhalb Jahre später ist deshalb ein 41-Jähriger wegen Mordversuchs vor Gericht.

Foto: Robert Newald

Wien – Ein "Punk" ist im US-amerikanischen Englisch nicht nur der optisch leicht erkennbare Anhänger einer bestimmten Musikrichtung, sondern kann laut Wörterbuch auch "ein junger Mann, der sich auf unhöfliche oder gewalttätige Weise verhält", sein. Gar so jung ist Herr W. mit seinen 41 Jahren zwar nicht mehr, dafür umso gewalttätiger, wenn man der Staatsanwältin glaubt. Die wirft dem Arbeitslosen vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Nicole Baczak vor, im Juli 2020 in Wien-Simmering einen Mann mit einem Kantholz fast erschlagen zu haben, was aus Sicht der Anklagebehörde ein Mordversuch war. Vier Monate später soll W. vor dem Museumsquartier einem anderen Opfer durch einen Faustschlag einen verschobenen Nasenbeinbruch zugefügt haben, was als schwere Körperverletzung angeklagt ist.

Doch die Staatsanwältin will nicht nur eine Haftstrafe für W. erreichen. Er soll wegen seiner Gefährlichkeit auch in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen werden – denn laut einem psychiatrischen Gutachten sei der Angeklagte wegen einer Persönlichkeitsstörung gefährlich und werde wieder gewalttätig werden, falls er nicht behandelt wird.

17 Vorstrafen in 23 Jahren

W. habe bereits in der Jugend "beschlossen, aus der normalen Gesellschaft auszusteigen", skizziert die Anklägerin den Lebensweg des 41-Jährigen. Er habe sich der Punkszene angeschlossen, nur sporadisch gearbeitet und immer wieder auf der Straße oder in besetzten Gebäuden gelebt. Und der – vor Gericht ohne auffällige Frisur oder Kleidung erschienene – Angeklagte brach immer wieder das Gesetz: Zwischen 1997 und 2020 erhielt er insgesamt 17 Vorstrafen, zwölf davon sind einschlägig. Zuletzt wurde er im Jänner 2020 zu vier Monaten unbedingter Haft verurteilt, die Strafe trat er nie an, nach dem Vorfall im Juli tauchte er dann unter und lebte bei Freunden oder seiner Verlobten.

Zum Nasenbeinbruch bekennt W. sich schuldig, da sei ihm "kurzfristig die Hand halt ausgekommen", erklärt er dem Gericht. Er sei bei einer feiernden Gruppe gewesen, ein Obdachloser habe sich dazugesellt und immer wieder ihren Alkohol konsumiert, das habe ihn geärgert, schildert der Angeklagte. "Ich dachte, Punks teilen alles?", hat Vorsitzende Baczak ein romantisches Bild. "Untereinander schon", klärt der Angeklagte sie auf.

Faustschlag nach Beleidigung

Die Beherrschung habe er verloren, als der Obdachlose mutmaßte, W. sei der Sprössling einer Frau, die beruflich sehr viele Männerbekanntschaften macht. Auch vor Gericht ist er darüber noch immer erbittert: "Meine Mutter hat sieben gesunde Kinder gekriegt, und wenn er das meiner Mutter ins Gesicht gesagt hätte, hätte er ein paar Watschen bekommen", ist sich der gebürtige Niederösterreicher sicher. Auch der Einwand von Beisitzer Friedrich Forsthuber, Präsident des Landesgerichts, dass mit der Insultation gemeinhin der Angesprochene beleidigt werden soll und nicht dessen Mutter, lässt W. nicht gelten.

Schwerer wiegt aber ohnehin der erste Anklagepunkt, der versuchte Mord. Der ereignete sich im nächtlichen Simmering in der Nähe der U-Bahn-Station Gasometer. Hier bekennt sich der Angeklagte nur teilschuldig. Ja, er habe einen 46-Jährigen mit dem Kantholz am Kopf getroffen, aber er sei davor selbst verletzt worden und habe nur instinktiv einen weiteren Angriff abwehren wollen.

Hilfe gegen "türkische Nazis"

Zur Vorgeschichte: W. und zwei Freunde feierten an diesem Tag in einer Wohnung, er habe "fünf oder sechs Bier" getrunken. Dann hätten Bekannte sie informiert: "Das Ernst-Kirchweger-Haus wurde von einer Gruppe türkischer Nazis belagert. Wir wollten unseren Freunden Beistand leisten." Das Trio machte sich auf den Weg zur U-Bahn, als aus einem Taxi ein Ehepaar und ein jüngerer Mann ausstiegen. Es kam zu einem Streit – W. sagt, da einer der Männer einen "rechtsradikalen Pullover" der bei Rechtsextremen populären Marke Thor Steinar anhatte. Der später Verletzte meint, er habe die Punks aufgefordert, leiser zu sein, was die nicht goutiert hätten.

Es folgte ein Wortgefecht, dann trennten sich die Gruppen. Der Verletzte sagt, er sei mit seiner Gattin in die nahe Wohnung gegangen, dann habe er sich um seinen weiter entfernt wohnenden jüngeren Bekannten gesorgt und sei wieder hinuntergekommen. Ab dann habe er keine Erinnerung mehr. Sicher ist, dass die beiden nochmals auf die Punks trafen und es zu einer Rauferei kam, an deren Ende der 46-Jährige mit einem mehrfachen Bruch der Schädeldecke und einem Schädel-Hirn-Trauma auf dem Boden lag und aus Sicht des medizinischen Sachverständigen nur mit Glück überlebte.

Baumaterial instinktiv aufgehoben

Der Angeklagte schildert den Ablauf des zweiten Aufeinandertreffens so: Der 46-Jährige und sein jüngerer Begleiter seien auf seine Gruppe zugerannt, einer der beiden habe das offenbar von einer Baustelle stammende, einen Meter lange Kantholz in der Hand gehabt. Es seien Faustschläge gefallen, dann habe er selbst das Holz auf den Kopf bekommen – von wem, wisse er nicht. "Da hat es geblitzt", sagt W., er sei benommen zu Boden gegangen. Der Angreifer müsse die Waffe bei dem Schlag verloren haben, mutmaßt der Angeklagte – als er sich aufgerappelt hatte, sei das Holz auf dem Boden gelegen. Der 46-Jährige sei mit erhobener Faust auf ihn zugelaufen, da habe W. sich gebückt, das Holzstück aufgehoben und instinktiv von unten nach oben zugeschlagen, behauptet er.

Die beiden Kontrahenten seien dann am Boden gelegen. Er habe noch gesagt: "Wir sind nicht so wie ihr, die zutreten, wenn einer am Boden liegt", dann seien er und seine beiden Freunde gegangen, sagt der Angeklagte. "Zum Ernst-Kirchweger-Haus?", will die Vorsitzende wissen. "Das hat sich dann erübrigt, da das ein schwerwiegender Vorfall war und ich am Kopf geblutet habe", lautet W.s Antwort. Er habe jetzt noch drei Narben auf dem Kopf, zu einem Arzt oder ins Spital sei er damals aber nicht gefahren. "Und Sie haben nicht die Rettung gerufen, nachdem Sie den anderen mit dem Kantholz erwischt haben und der umgefallen ist?" – "Ich werd' nicht jemandem, der mich attackiert, nachher auch noch helfen", kann der Angeklagte die Frage nicht ganz nachvollziehen.

Zeugin widerspricht Angeklagtem

Die Zeugenaussagen unterscheiden sich je nach Gruppenzugehörigkeit, eine unabhängige Zeugin, die damals ihren Hund Gassi führte, widerspricht allerdings der Darstellung des Angeklagten. Nach ihrer Wahrnehmung sei W. auf den 46-Jährigen zugekommen und habe mit dem Kantholz von oben nach unten "mit voller Wucht" auf dessen Kopf geschlagen. Danach schulterte er die Waffe und ging mit seinen Freunden davon, berichtet die Frau, die einen Teil der Szene mit ihrem Mobiltelefon filmte und sich danach um den lebensgefährlich Verletzten kümmerte.

Am 16. Dezember wird fortgesetzt, dann sollen auch der medizinische und der psychiatrische Sachverständige ihre Gutachten vortragen, ehe die Laienrichterinnen und -richter entscheiden, wegen welchen Deliktes W. verurteilt wird. (Michael Möseneder, 7.11.2022)