Jessica Winkelbauer und Rufat Avshalumov sind beide in der Gemeinde aktiv.

Foto: IKG/Dagan

In der Nacht von 9. auf 10. November 1938 wurden in Wien binnen Stunden fast alle Synagogen erst geplündert und dann durch Brandstiftung völlig zerstört. 18 Synagogen und 78 Bethäuser gab es zuvor in Wien. Die Novemberpogrome wurden in ganz Österreich und Deutschland von den Nationalsozialisten vorbereitet und hatten zum Ziel, das institutionelle jüdische Leben zu zerstören. Doch auch tausende Geschäfte und Wohnungen von Juden und Jüdinnen wurden in dieser Nacht überfallen, viele ihrer Besitzer ermordet.

"In meiner Erinnerung gibt es keinen 9. November, an dem ich nicht beim Gedenkmarsch mitgegangen bin", sagt die 21-jährige Jessica Winkelbauer, eine junge Jüdin aus Wien, über das jährliche Gedenken in der Hauptstadt, das an diese Nacht vor 84 Jahren erinnert. Winkelbauer verbringt derzeit ein Auslandssemester in England, doch für die hohen Feiertage im Herbst war sie zu Hause. DER STANDARD traf sie gemeinsam mit dem 22-jährigen Rufat Avshalumov aus Nürnberg, der in Wien Internationale Betriebswirtschaftslehre studiert. Beide sind in Jugendorganisationen der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien aktiv.

Mit Fackel, ohne Unterschied

"Wenn man in dieser Menschenmasse geht, erkennt man natürlich viele Leute, man hält als Gemeinde zusammen, trauert und gedenkt zusammen", erzählt Winkelbauer, aber vor allem "die Gesichter, die man nicht erkennt, freuen einen, das sind Österreicherinnen und Österreicher, die sonst nicht viel mit dem Judentum zu tun haben, aber trotzdem kommen und Solidarität zeigen". Da gebe es immer wieder schöne Gespräche, "man geht und hält die Fackel und erkennt keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden".

2019 gedachten in Wien 2.500 Menschen der Novemberpogrome. Nach der Corona-Pause geht man am Mittwoch wieder.
Foto: Ouriel Morgensztern

Das war nicht immer so, erst 2016 habe man begonnen, den Marsch für alle zu öffnen, alle einzuladen. Durch die Pandemie pausierte man zwei Jahre. 2019 gingen in Wien etwa 2.500 Menschen mit. Am Mittwoch will man die Route vom Heldenplatz zum Judenplatz wieder gemeinsam beschreiten. Light of Hope nennt sich der Lichtermarsch durch Wien.

Öffentliche Zusammenkünfte gebe es nicht oft, betont Winkelbauer. "Jeder, der im Stadttempel in der Seitenstettengasse beten geht, kennt das ganz genau: Wir können uns dort vor der Synagoge nicht versammeln, obwohl das ja nicht nur ein Ort zum Beten ist, sondern auch zum Reden", erklärt Winkelbauer. "Doch wir werden aus Sicherheitsgründen gebeten weiterzugehen."

Besuche von Nachkommen

Rufat hat zur Synagoge in der Seitenstettengasse, die als eine der wenigen 1938 nicht zerstört wurde, eine besondere Beziehung. Sie blieb nicht nur stehen, weil sie eng verbaut mitten in der Altstadt stand und die Nazis die Feuerwehr zuließen, weil die Flammen sonst auch auf nichtjüdische Gebäude übergesprungen wären. "Neben der Synagoge war auch das Archiv mit Aufzeichnungen zu über 200.000 Jüdinnen und Juden", erzählt Avshalumov, "das war natürlich sehr wertvoll für die Nazis, die es für die Deportation nutzten." Avshalumov macht Führungen durch den Stadttempel, auch für Nachkommen von ermordeten Wiener Gemeindemitgliedern, die mehr über ihre Vorfahren und deren Geschichte erfahren möchten. Er habe so auch Vorarbeit für die Verlegung von Gedenksteinen geleistet, was ihn besonders berührt habe.

Physische Attacken unverändert

Vor wenigen Tagen wurde auch der jährlich erscheinende Bericht der Antisemitismus-Meldestelle der IKG veröffentlicht. Im Vergleichszeitraum zum Vorjahr sind die Zahlen gesunken, vor allem im Bereich Massenzuschriften und beleidigendes Verhalten – auch weil Corona-Demos weniger geworden sind. Jedoch: Angriffe, Bedrohungen und physische Attacken auf Einzelne blieben unverändert.

Avshalumov ist traditionell jüdisch, begeht die Feiertage, trifft sich zum Sabbat und kocht gemeinsam mit Freunden, aber öffentlich ist er "nicht sichtbar jüdisch", weshalb er keine Attacken in der Öffentlichkeit erlebe. Doch in der Schule in Deutschland habe es ihm gegenüber auch antisemitische Kommentare gegeben.

Wie Winkelbauer ist Rufat Avshalumov im Programm Likrat aktiv, für das jeweils ein weibliches und ein männliches junges Mitglied der Gemeinde in Schulen gehen, um dort Gleichaltrigen vom Judentum zu erzählen und Berührungsängste und Vorurteile abzubauen. Das sei auch ein "geschützter Raum", erklärt Winkelbauer, wo Menschen Fragen stellen können, die ihnen sonst peinlich wären.

Was beide schockiert: Immer noch hält sich in manchen Kreisen der falsche Mythos, dass Juden keine Steuern zahlen müssten. Das zeige, wie wichtig die Arbeit von Likrat sei, betont Winkelbauer, "denn das glauben viele Leute, aber sie trauen sich normalerweise nicht, es anzusprechen". Likrat hat zu diesem Thema deshalb auch ein Video produziert. Genauso halten sich alte Stereotype wie jenes, dass alle Juden reich seien.

Im Dialog mit Polizeischülern

Avshalumov war für Likrat auch schon in Polizeischulen, wo es das Programm erst seit kurzem neben Wien auch in Kärnten gibt. Da habe es "sehr gute Dialoge" gegeben, freut er sich, "mir wurden auch sehr sinnvolle Fragen gestellt wie: 'Wenn ich eine jüdische Einrichtung bewache, was muss ich da beachten bei den Gästen, die da kommen?'"

Es gebe nach 84 Jahren noch immer keine einzige Synagoge in Wien, "die sichtbar ist wie eine Kirche", erinnert Winkelbauer. "Wir sind so aufgewachsen, dass wir die Türen schließen, den Kopf senken, uns verstecken, nicht darüber reden", erzählt sie, "aber dann grassieren Vorurteile weiter, deshalb müssen wir die Türen öffnen, andere einladen, mitzugehen und sich die Texte anzuhören, die wir vorlesen. Die Geschichten unserer Großeltern."

Am Mittwoch ab 19 Uhr gibt es dazu wieder Gelegenheit, Treffpunkt ist der Heldenplatz.
(Colette M. Schmidt, 9.11.2022)