Die Aufräumungsarbeiten des Postkolonialismus: Französische Panzer wühlen sich durch Oran, Algerien 1962.

Foto: EPA

Es herrscht Einmütigkeit wie selten in den fortschrittlich gesinnten Teilen der Welt: Das koloniale Unrecht, begangen in den Ländern des Globalen Südens, muss benannt werden. Die abscheuliche Natur des Versklavens, Erpressens und Ausbeutens gehört vorbehaltlos anerkannt. Die Folgen des Kolonialismus, seine sichtbaren Zeichen wie auch die schmerzlichen Lücken, die er gerissen hat, gehören beseitigt. Jüngst geschlossene Abkommen wie die Erklärung zur "Eigentumsübertragung" der Benin-Bronzen an Nigeria belegen die eindeutige Zunahme restitutiver Anstrengungen.

Doch in das Pathos derer, die Wiedergutmachung auch dann für unumgänglich halten, wenn sie enorm verspätet passiert, mischen sich Vorbehalte. Da gibt es die postkolonial Bewegten: unter ihnen in der Wolle gefärbte Anhänger der "Cancel-Culture". Für sie und ihresgleichen kann der Prozess der Dekolonisierung gar nicht langanhaltend genug sein. In ihren Augen ist antikolonialer Widerstand keine vorübergehende Therapie. Da koloniale Gewalt- und Unrechtsverhältnisse höchstens teilvermindert fortbestehen, gehören ihre Nutznießer angeprangert und moralisch diskreditiert.

Historische Blessuren

Längst hat das Brandmarken der Folgeschäden "historischer Ungerechtigkeit" enorme Energien freigesetzt, Aktivitäten des Umbenennens, des Tilgens, des Fortschaffens und Kleinredens. Lassen sich so die Blessuren durch historisch wirksam gewordene Gewalt heilen? Der Historiker Egon Flaig machte vor nicht langer Zeit Einsprüche geltend. In der FAZ skizzierte der Rostocker Emeritus aus begriffslogischer Sicht die Widersprüche, die man in Kauf nimmt, wenn man die Akteure der Vergangenheit moralisch schuldig spricht.

Wer heute Reparationen für erlittenes Unrecht fordert, ist als "Sieger" aus Memorialkämpfen hervorgegangen. Erinnertes Unrecht wird privilegiert. Nicht jeder Gräuel, der verübt worden ist, kann auch wirklich repariert werden. Doch nicht jeder, der Schlechtes bewirkt, ist darum schuldig. Erst durch die Verwechslung "historischer Übel" mit dem Unrecht, das jemand wider besseres Wissen begeht, sei die Blickverzerrung durch heutige Moralprediger möglich. "Alte" Sinnsysteme würden von uns von Grund auf verachtet. Zu Unrecht.

Flaig trifft den wunden Punkt derer, die die "Vielfalt der Gewaltbeziehungen" (Rebekka Habermas) über ein und denselben Kamm scheren. Die Kriterien, aufgrund derer wir die Schuld der Vorfahren messen, sind Mustererzeugnisse. Sie gehören seit Kant zu den Großleistungen unserer eigenen Kultur. Ihre gloriosen Schöpfer sind zugleich die Geschwister und Angehörigen jener, die sich hässlichster Übergriffe gegenüber den Bewohnern Afrikas, den Menschen in Übersee und anderswo schuldig gemacht haben.

Arabische Erfindung

Flaig treibt sein Argument auf die Spitze. Die Einrichtung französischer und englischer "Protektorate" auf afrikanischem Boden, mit beispiellosem Eifer im 19. Jahrhundert betrieben, erklärt er sich (und uns) mit dem Abscheu, den Europas Abolitionisten gegenüber damaligen Sklaventreiberstaaten empfunden hätten. Überhaupt sei die Versklavung von Afrikanern eine arabische Erfindung gewesen.

Vergessen scheint an diesem Punkt der wahre Grund für die empörende Sklavenjagd auf Afrikas Boden: die Einrichtung einer umfangreichen Plantagenwirtschaft in Amerika, um die empfindlichen Gaumen der Europäer mit Zucker und Kaffee zu verwöhnen und ihre Gliedmaßen in Erzeugnisse aus Baumwolle zu stecken. "Sklavismus" ist so alt wie die Menschheit. Doch es sind vornehmlich europäische Bedürfnisse gewesen, die unstillbaren Hunger nach der Arbeitskraft Geschundener weckten.

Das Schuldigsprechen der Vergangenheit beruht auf der Geltung universeller Prinzipien. Ausgerechnet ihretwegen machen die Nachfahren kolonialer Zwangsherrschaft ihre oftmals wohlbegründeten Ansprüche geltend. Der auf Martinique geborene antikoloniale Aktivist Frantz Fanon (1924–1961) wies jeden Anspruch auf "Allversöhnung" brüsk zurück. Dort, wo der Kolonialherr das Sagen habe, bleibe für den Kolonisierten nicht der kleinste Rest an Würde, an mitfühlender Menschlichkeit übrig. Fanons Polemiken begleiteten einst den unermesslich blutigen Freiheitskampf, der Algerien von Frankreich lostrennte (1954 bis 1962).

Überschießende Gewalt

Flaig hat sich mit diesem Apostel einer angeblich läuternden Gewalt eingehend beschäftigt. Er bezichtigt Fanon, Autor von Die Verdammten dieser Erde, des "antirassistischen Rassismus". Fanons Agitationslatein hat in der Tat etwas Überschießendes. Kolonisierte seien "konstitutionell verderbt"; ihnen bleibe keine andere Wahl, sie müssten zur Gewalt greifen, um die über sie verhängten Zwänge abzuwerfen. Erst durch die blutige Gewalttat entwinde sich der Kolonisierte seiner Fesseln. Gleichheit meint: "Die Gewalt hebt das Volk auf die Höhe seiner Anführer."

Über einem Konzept wie historische Gerechtigkeit? Wäre Fanon womöglich in schallendes Gelächter ausgebrochen. Und hätte gefragt, was Deutschland die "Erklärung" über die bedingungslose Restitution der Benin-Bronzen in Wahrheit gekostet habe. Von den 512 ausgewiesenen Objekten bleibt rund ein Drittel als Leihgabe in Deutschland zurück. (Ronald Pohl, 9.11.2022)