"Wir sollten alles tun, die EU-Sanktionen strikt einzuhalten", sagt Wolfgang Lutz, " "zugleich gibt es aber noch größere Probleme als diesen Krieg – wie den Klimawandel oder die Biodiversitätskrise. Und Russland ist in diesen Fragen ein Schlüsselland, egal, ob wir das wollen oder nicht."
Foto: Heribert CORN

Wolfgang Lutz ist einer der einflussreichsten Bevölkerungswissenschafter der Gegenwart und seit fast vier Jahrzehnten mit dem Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg verbunden, das in diesem Herbst seinen 50. Geburtstag feiert. Lutz begann nach seinem Doktorat in den USA 1984 in Laxenburg zu forschen und leitete von 1994 bis 2020 das World Population Program des IIASA. Der Gründungsdirektor des seit 2010 bestehenden Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital mit einem Standbein im IIASA ist dort aktuell Generaldirektor für Wissenschaft. (Chronologie des IIASA am Ende des Texts.)

STANDARD: Sie haben in vielen Ländern dieser Welt geforscht und kennen sich in der internationalen Wissenschaftswelt bestens aus. Was ist das Besondere am IIASA?

Lutz: Was dieses Institut weltweit einzigartig macht, ist seine durch und durch globale Ausrichtung – und zwar gleich auf mehreren Ebenen. Erstens ist das Institut global im Hinblick auf seine Forschungsschwerpunkte: Es geht um den Wandel des Weltklimas, um Fragen der Weltbevölkerung, der globalen Energieversorgung oder der Biodiversität. Hier zählt das IIASA sicher zu den weltweit führenden Forschungseinrichtungen. Wir haben bei unserer Forschung also stets die ganze Welt im Fokus. Global ist das Institut zweitens aber auch in seinem interdisziplinären Zugang, indem wir etwa über Zusammenhänge von Klimawandel und Bevölkerung forschen. Schließlich ist das Institut auch in seiner Trägerschaft mehr als nur international. Diese Form der globalen Ausrichtung auf diesen drei Ebenen hat kein anderes wissenschaftliches Institut der Welt.

STANDARD: War das schon von seinen Anfängen an so?

Lutz: Zum Teil ja, auf jeden Fall bei den globalen Themen. Ursprünglich war das IIASA ja im Kalten Krieg gegründet worden, um eine wissenschaftliche Brückenfunktion zwischen Ost und West zu erfüllen. Nach 1989 war das aber nicht mehr nötig. Also entschied man sich dazu, Länder wie Indien, China, Brasilien, Mexiko oder Südafrika aufzunehmen, und damit wurde das IIASA auch hinsichtlich seiner Trägerschaft global.

STANDARD: Das IIASA hat aktuell 22 Mitgliedsländer und eine große Mitgliedsregion in Afrika. Dabei kam es immer wieder zu Fluktuationen und Schwierigkeiten nach Machtwechseln – so etwa, als Ronald Reagan US-Präsident wurde.

Lutz: Richtig. Unter der damals neuen Reagan-Administration 1981 wollte man jede wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Osten beenden und hat die IIASA-Zahlungen eingestellt. Zudem wurde auch Margaret Thatcher dazu überredet.

STANDARD: Wie wurde der geplante Rückzug damals begründet?

Lutz: Anfang der 1980er-Jahre lief die einzige Computerverbindung zwischen Ost und West über das IIASA, über die Daten zu Energie oder Klima ausgetauscht wurden. Das hat natürlich die Fantasie angeregt, das IIASA könnte ein Spionage-Hotspot sein. Das wurde zum Anlass genommen, die amerikanische und die britische Finanzierung zu stoppen. Es wurden aber von der Wissenschaftscommunity in den USA in kurzer Zeit alternative Finanzierungsquellen aufgestellt. Zuletzt ließ übrigens der brasilianische Präsident Bolsonaro die Zahlungen ans IIASA einstellen, weshalb wir uns über den Wahlsieg Lula da Silvas gefreut haben, da dessen Wissenschaftsberater zugesagt hatten, die Zahlungen wieder aufzunehmen.

STANDARD: Unter den Mitgliedsstaaten gibt es Länder, die stark verfeindet sind oder sogar Krieg gegeneinander führen – wie Russland und die Ukraine oder Israel und der Iran. Wie wirkt sich das praktisch aus?

Lutz: Angesichts der Ereignisse in der Ukraine mutet es fast schon irgendwie unwirklich an, dass etwa der russische und der ukrainische Vertreter im IIASA-Council gute Freunde und Kollegen sind. Mein engster Mitarbeiter Sergei Scherbov ist ebenfalls Russe, und einer seiner besten Freunde ist Vizepräsident der ukrainischen Akademie der Wissenschaften. Die beiden haben gemeinsam etliche Artikel und Bücher geschrieben. Es gibt in vielen Bereichen am IIASA also eine ganz starke inhaltliche und menschliche Verbundenheit, und wir haben das Gefühl, dass durch die aktuelle Situation von außen Probleme ins IIASA hereingetragen werden, die wir hier überhaupt nicht haben.

STANDARD: Gibt es seitens der anderen Mitgliedsländer gar keine Boykotte oder ähnliche Maßnahmen?

Lutz: Vor allem nordische Mitgliedsländer haben uns wissen lassen, dass es für sie ein Problem ist, beim nächsten IIASA-Council-Meeting mit einem Vertreter Russlands an einem Tisch zu sitzen. Die Russen haben die Situation dadurch entschärft, indem sie selbst davon Abstand nahmen, zum Treffen zu kommen. Russland bleibt aber weiter Mitgliedsland. Auf Ebene der Diplomatie gibt es aber Stimmen, die fordern, alle Kontakte zur russischen Wissenschaft abzubrechen.

STANDARD: Was entgegnen Sie solchen Forderungen?

Lutz: Diese Position ist aus westeuropäischer Perspektive nachvollziehbar, und wir sollten alles tun, die EU-Sanktionen strikt einzuhalten. Zugleich gibt es aber noch größere Probleme als diesen Krieg – wie den Klimawandel oder die Biodiversitätskrise. Und Russland ist in diesen Fragen ein Schlüsselland, egal, ob wir das wollen oder nicht. Das Auftauen des Permafrosts in Sibirien etwa ist einer der Kipppunkte für das Weltklima. Keine diesbezüglichen Daten mehr aus Russland zu erhalten wäre absolut kontraproduktiv für die Zukunft der Menschheit. Ich denke, dass man im Wissenschaftsbereich wirklich die richtige Balance halten sollte.

STANDARD: Spannungen gibt es zwischen den USA und China, ebenfalls zwei IIASA-Mitgliedsstaaten. Macht sich das am Institut bemerkbar?

Lutz: Ich halte diese Bruchlinie global und langfristig für wichtiger. Und ich glaube, dass das IIASA hier eine wichtige Vermittlerrolle spielen kann, ähnlich wie die im Kalten Krieg. Die chinesische Wissenschaftslandschaft ist sehr stark ins IIASA eingebunden. Wir haben viele chinesische Postdoktoranden am IIASA, haben gemeinsame Forschungsprogramme und tun das zugleich mit aller gebotenen Vorsicht, um keine Patente zu verletzen.

STANDARD: Kommen wir von der Ebene der Trägerstruktur des IIASA zurück zu seiner Forschung. International bekannt sind die Wissenschafterinnen und Wissenschafter des IIASA nicht zuletzt für ihre Beiträge zur Klimaforschung und konkret zum IPCC. Wie kam es dazu?

Lutz: Große klimatologische und meteorologische Modelle im engeren Sinn hat das IIASA nie als Schwerpunkt gehabt. Das wäre wegen der dafür benötigten Rechnerkapazitäten und Mitarbeiterzahlen auch zu teuer gewesen. Am IIASA wandte man sich deshalb der Metaebene zu, indem man hier schon früh auf die Rahmenbedingungen fokussierte, konkret: auf die Ursachen der Treibhausgasemissionen und die Folgen des Klimawandels. Es geht hier um alle denkbaren Risiken und Konsequenzen, die sich aus dem Klimawandel ergeben – von der Landwirtschaft bis zur Gesundheit. In den 1980er- und 1990er-Jahren etablierte sich das IIASA schnell als eines der führenden globalen Zentren für die entsprechenden Szenarienbildungen, indem erforscht wurde, welche Entwicklungen bei welcher Konzentration von Treibhausgasen zu erwarten sind, und andererseits, wie man diesen Klimawandel abmildern kann. Das sind auch wesentliche Fragen in den Arbeitsgruppen zwei und drei des IPCC, und hier haben dann später auch dutzende IIASA-Forscher mitgearbeitet.

STANDARD: Wenn wir noch einmal das halbe Jahrhundert IIASA Revue passieren lassen: Was waren für Sie in den vergangenen 50 Jahren die wichtigsten Entwicklungen?

Lutz: In den 1970er-Jahren war das IIASA sicher das weltweite Zentrum des sogenannten "global modelling". Damals versuchte man, die neu entwickelten Computersimulationsmodelle der Welt immer komplexer und realitätsnäher zu machen. Daran waren am IIASA der Statistiker Gerhart Bruckmann und Donella Meadows beteiligt, die beim Club of Rome mitgearbeitet hatte. Diese frühen Simulationsmodelle blieben aber letztlich doch sehr rudimentär. Deshalb folgte am IIASA eine Phase, in der wieder stärker disziplinär gearbeitet wurde. Sowohl in Sachen Bevölkerung als auch Energie oder Landnutzung wurden komplexere sektorale Modelle erarbeitet. In den letzten Jahren versuchen wir verstärkt, diese verschiedenen Arbeitsgruppen wieder zu einer neuen integrierten Gesamtperspektive zusammenzubringen.

STANDARD: Sie haben am IIASA auch kürzlich Ihre Strategie bis 2030 verabschiedet. Wie wird es in Zukunft mit dem Institut weitergehen?

Lutz: Wir fragen uns natürlich, wo wir im Spektrum der Forschungsinstitute weltweit stehen und was unsere Stärken sind: Das ist und bleibt die gesamtheitliche Systemanalyse, dieses Zusammendenken der verschiedenen Bereiche in komplexen Modellen. Der andere Schwerpunkt wird sein, etwas stärker in die Richtung Anwendung und unmittelbarer Vermittlung unserer politikrelevanten Erkenntnisse zu gehen. Das wird sowohl auf Uno-Ebene passieren, wo wir jetzt schon stark vertreten sind, aber auch auf nationalen und lokalen Ebenen rund um den Globus. (Klaus Taschwer, 9.11.2022)