Twitter wird nicht mit einem Knall untergehen, sondern langsam erodieren, prophezeit ein ehemaliger Site Reliability Engineer.

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Kann eine Plattform funktionieren, nachdem man die Hälfte der Mitarbeiter entlassen hat? Diese Frage stellen sich viele Beobachter, nachdem Elon Musk rund die Hälfte der 7.500 Angestellten bei Twitter entlassen hat. "Nein", sagt ein Ex-Entwickler, der unter anderem für die Stabilität der Plattform zuständig war. Nach der großen Entlassungswelle bei Twitter zeige Twitter bereits erste Anzeichen, quasi Risse im Fundament der Plattform, sagt der Ex-Mitarbeiter unter Zusicherung von Anonymität gegenüber "MIT Technology Review".

Kleine Bugs deuten auf gröbere Probleme hin

Dass etwas bei Twitter nicht stimme, könne man seit einigen Tage beobachten. Da wären etwa Probleme bei Retweets. Vor 2009, als die Funktion offiziell eingeführt wurde, war es üblich, Namen und Text des Urhebers zu kopieren und so einen Retweet manuell zu erstellen. Jüngst sahen sich einige Nutzer ins Jahr 2009 zurückversetzt, als sie den Retweet-Button drückten: Zuerst erschien der Retweet wie einst als manueller Beitrag, bevor er zum normalen Retweet wurde.

Dazu kommen noch andere kleine Fehler: etwa schwankende Follower-Zahlen oder Antworten, die einfach nicht geladen werden wollen. Sogar die Nutzungsregeln der Plattform waren für einige Zeit lang verschwunden. Das alles sind keine systemzerstörenden Fehler, aber kleine Bugs und laut dem Ex-Entwickler Hinweise darauf, dass etwas falsch läuft oder die Systeme nicht mehr richtig gewartet werden können. Diese Bugs werden sich im Lauf der Zeit verstärken und vervielfachen, prognostiziert der Ex-Entwickler gegenüber "MIT Technology Review".

Das ausgedünnte Team werde schnell ausbrennen. Der Großteil der Entwickler von Twitter war in den letzten Tagen damit beschäftigt, die Website stabil zu halten, nachdem ihr neuer Chef Elon Musk beschlossen hatte, einen erheblichen Teil des Personals zu feuern. Darunter sollen sich auch etliche Entwickler befunden haben, die für die Wartung des Basiscodes zuständig waren oder als sogenannte Site Reliability Engineers (SRE) für eine reibungslose Nutzererfahrung zuständig waren – als eine Art digitale Hausmeister, die das Gebäude Twitter instand halten.

Erosion in kleinen Schritten

Diese Entwicklerteam wurde von Twitter ab 2013 massiv ausgebaut, nachdem die Plattform immer wieder mit Ausfällen zu kämpfen hatte – und man rühmte sich gerne damit, eines der besten SRE-Teams der Branche zu haben. Unbestätigten Berichten zufolge sollen 80 Prozent dieser Stabilitätswächter entlassen worden sein. Die größte Gefahr laut dem Bericht sei es, dass der Basiscode von Twitter nicht mehr richtig gewartet werden kann, weil die Entwicklerinnen und Entwickler zu sehr damit beschäftigt sind, die Wünsche ihres sprunghaften neuen Chefs zu erfüllen. Das dürfte wohl einer der Gründe sein, warum Twitter einen Teil der entlassenen Mitarbeiter um ihre Rückkehr bat.

Jene, die sich jetzt schon schadenfroh auf den baldigen Untergang von Twitter freuen, werden jetzt aber enttäuscht. "Große katastrophale Ausfälle sind natürlich prickelnder, aber das größte Risiko ist, dass kleine Dinge erodieren", sagt Ben Krueger, selbst Site Reliability Engineer mit 20-jähriger Erfahrung in der Branche. Man müsse sich eine Plattform wie Twitter wie ein Konstrukt aus vielen kleinen, miteinander verbundenen Systemen vorstellen. Demnach geschehe der Kollaps eher in kleinen Schritten.

Das bestätigt auch der ehemalige Entwickler: "Dinge werden kaputtgehen. Dinge werden häufiger kaputtgehen und länger kaputt sein, und Dinge werden auf schwerwiegendere Art kaputtgehen", zeichnet er ein düsteres Bild von Twitters Zukunft. (pez, 10.11.2022)