Schreibt mit Eleganz Bestseller: Autor Julian Barnes (76).

Foto: Marzena Pogorzaly

Elizabeth Finch beeindruckt Neil sofort. Ohne Notizen, "billiges Lob" und Pflichtlektüre steht sie vor ihren Studenten. Sie belehrt nicht, sondern regt zu Diskussionen an, hat Prinzipien, denen sie unbeirrbar zu folgen scheint. Mit ihren das ganze Jahr über in "festen Halbschuhen" steckenden Füßen ist sie trittsicher in der abendländischen Kulturgeschichte. Sie raucht ohne Reue, Moden folgen weder ihre Blusen noch die stets gleiche Frisur.

Andere finden sie antiquiert. Neil, Anfang 30, gescheiterter Schauspieler und Ehemann, vergöttert sie bis an die Grenze des Lächerlichen. Über ihn selbst, seine Scheidungen und Kinder und beruflichen Misserfolge aus Vergangenheit und Zukunft, wird man indes kaum mehr als Skizzenhaftes erfahren. Wir befinden uns in der Zeit vor Social Media. Nach den Kursen, in denen es mal um abzulehnende Dinge mit dem Wortanfang "Mono" (Monokultur, Monotheismus oder Monokini) und mal um die Blockbusterqualitäten christlicher Ikonografie geht, geben die Studierenden einander Rätsel zum Privatleben der Lehrerin auf: Was macht sie abends? Und trinkt sie dazu Wein?

Pasta und Philosophie

Liebe, Geistes- und Kunstgeschichte, die Suche nach Wahrheit oder die Rolle von Religion ziehen sich schon immer durch Julian Barnes’ inzwischen rund 20 Romane und Erzählbände. Seit vier Jahrzehnten fädelt der mit seiner Gelehrtheit nie Geizende alle zwei Jahre eine neue schimmernde Perle auf die elegante Kette seines viel gelobten Werks. Elizabeth Finch ist die neueste. Doch sie ist nicht ganz ebenmäßig. Zweifellos klug, macht dem Leser das studentische Diskutieren weniger Freude als dem Autor. Erleichterung macht sich breit, als nach 50 Seiten der Kurs endet und Neil es wagt, "EF" zu fragen, ob sie mit ihm essen ginge.

Sie willigt ein – aber es wird dabei nichts weiter passieren, als dass sie sich fortan ein paarmal jährlich für 75 Minuten zu Pasta treffen und dabei Privates, Politisches, Philosophisches besprechen. Das Glück hält aber keine zehn Seiten. Dann, fast 20 Jahre sind vergangen, stirbt Elizabeth, und Neil erbt ihre Bibliothek.

Barnes hätte sich an der Stelle ganz darauf verlegen können, dem titelgebenden Mysterium näher zu kommen. Das Buch zerfällt aber in zwei Hälften. In der einen spürt Neil in reizenden, zarten Szenen Elizabeth Finch nach. Er zapft dazu deren Bruder an oder liest ihre Tagebucheinträge. Sie macht sich darin Gedanken über Kinderlosigkeit, Liebe oder Tod. Es sind kleine Schätze.

Schwärmerei mit Ärmelschonern

Im anderen Bruchstück vertieft Neil sich in Leben und Nachleben des Julian Apostata, des römischen Kaisers (331–363), der das Christentum zugunsten hellenistischer Philosophie zurückdrängen wollte. Vergeblich. Was wäre der Welt sonst an Religionskriegen erspart geblieben! Auf ihn ist Neil in Elizabeth Finchs Papieren gestoßen. Ist Barnes bisher mit den Ärmelschonern am Schreibtisch gesessen, zieht der Autor jetzt noch die Lesebrille auf die Nase.

Auch wenn das Leben des Apostaten romantauglich wäre: In diesem Fall staubt es. Er kann mit seinen aufgeklärten Ideen zeitlebens als genauso gescheitert betrachtet werden wie Neil und Elizabeth (sie wird gecancelt). Dass er als tröstlicher Echoraum für beide dient, wirkt aber gestelzt. Die Figuren werden in Elizabeth Finch zu Garderobenhaken, um Wissen und Ideen daran aufzuhängen. Es ist diesmal zu viel. (Michael Wurmitzer, 11.11.2022)