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Unüblich unernst: Tennisgitarrist Marcel Proust in heiterer Gesellschaft. Das Foto entstand 1892 in Paris.

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Es sind wenige Striche. Vielleicht zehn, vielleicht zwölf. So wenige brauchte Paul Morand, um Marcel Proust im Totenbett zu skizzieren. Vor lauter Trauer datierte er die Federzeichnung falsch. Er schrieb "dimanche, 19 octobre 1922", dabei war es der 19. November.

Die letzten Worte

Am selben Tag wie Morand nahm François Mauriac Abschied von Proust. Sechs Monate vorher war sein Roman Le Baiser au lépreux erschienen, ein Bestseller; genau 30 Jahre später wird Mauriac den Literaturnobelpreis bekommen. Er sah auf einem hellgrünen Briefkuvert die letzten Worte, die Proust gekritzelt hatte. Mauriac konnte nur "Forcheville" entziffern. Im Umschlag waren drei Zettelchen, letzte Ergänzungen zum Riesenwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erst 70 Jahre später konnten sie entziffert werden. Ein Wort führt zu einem Erinnerungspfad, ein andres meint die Verweigerung, diesen Weg einzuschlagen.

So rätselhaft wie die zwei Wege in Combray, die sich zu Anfang des Romanzyklus nicht treffen. Die sich nicht treffen wollen. Und als was erweisen sich diese beiden Pfade? Als Rundgang. Auf diesem Rundgang wimmelt es nur so von Proustianern. Diese sind dem Schweizer Proust-Leser Andreas Isenschmid zufolge anders: "Andere Leser lesen Bücher, und hin und wieder lesen sie, vielleicht, auch ein Buch von Marcel Proust. Der Proustianer tut das Gegenteil: Er liest Proust und hin und wieder, vielleicht, auch das Buch eines anderen Autors."

Anton Thuswaldner, "Mein Proust-Moment. Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt". € 19,– / 144 Seiten. Müry Salzmann, Salzburg 2021.

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Ein Moment für Proust

Proust-Momente. Ein Moment für Proust, den 1871 geborenen Asthmatiker, Madeleine-Verzehrer und wohl eminentesten Erinnerer der Weltliteratur. Proust-Leser sind im Vorteil, um Martin Walsers Auftaktessay in Mein Proust-Moment zu zitieren. Der Salzburger Kritiker Anton Thuswaldner bat für das kaleidoskopisch interessante Echo des Kaleidoskops Proust einige um Beiträge, Alexander Kluge, Anna Baar, Elke Laznia, Josef Winkler oder Daniel Wisser, der scharfsichtig Luzides präsentiert. Andere sinnieren über Inzidenzmomente.

Jürgen Ritte, "Marcel Proust am Genfer See". € 14,40 / 144 Seiten. Insel, Berlin 2022.
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Der in Paris lebende deutsche Übersetzer und Sorbonne-Professor Jürgen Ritte beleuchtet eine wenig beachtete biogeografische Zeitspanne Prousts näher, dessen Aufenthalte am Genfer See. Im schön illustrierten Bändchen Marcel Proust am Genfer See blättert er sich in seiner erhellenden Vignette durch die Handvoll Aufenthalte in Evian in den 1890er-Jahren.

Er schildert, wie sich Proust von Bildern wie Bergansichten oder der großen Fontäne zu Genf anregen ließ und diese Impressionen in seinem Gedächtnisreservoir deponierte. Auch, wie er sich in Gesellschaft begab, für Aufsehen ob seiner exorbitanten Trinkgelder sorgte – und diskriminiert wurde. Nicht als Bürgerlicher, der ob exquisiter Manieren herausstach, sondern als Jude. Als der er sich nie fühlte.

Oder doch, subkutan, hochsensibel, er, der Sohn Jeanne Weils aus elsässisch-jüdischer Familie? Evelyne Bloch-Dano, Jeanne Prousts Biografin, über Prousts Vorfahren: "Baruch Weil (Prousts Urgroßvater) hatte die französische Staatsbürgerschaft erst im Alter von zehn Jahren erhalten, sein Vater war des Französischen nie mächtig gewesen und leistete sogar seine Unterschrift in hebräischen Schriftzeichen. Gerade deswegen aber waren sein Integrationswille und die Achtung, die er jenem Land entgegenbrachte, das ihm dieselben Rechte zubilligte wie jedem anderen Staatsbürger, nur mit der Intensität seines religiösen Glaubens zu vergleichen."

Andreas Isenschmid, "Der Elefant im Raum. Marcel Proust und das Jüdische". € 26,80 / 240 Seiten. Hanser, München 2022.
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Andreas Isenschmid richtet sein Licht im Buch Der Elefant im Raum. Marcel Proust und das Jüdische auf Prousts Judentum. Gar so wenig ausgeleuchtet, wie er behauptet, ist dieses Thema nicht. 2019 widmete sich ein Proust-Symposium ebendiesem Thema. Was der langjährige NZZ am Sonntag-Literaturkritiker über das Jüdische bei und in Proust schreibt, liest sich anregend, auch weil hie und da angeregten Widerspruch herauslockend. Proust, so Isenschmids Fazit in seinem instruktiven Band, dem der Verlag kein Lektorat auf Augenhöhe zuteilwerden ließ, hat "seine eigene jüdische Erfahrung und seine eigene homosexuelle Erfahrung abgespalten und anderen Figuren gegeben".

Thierry Laget, "Proust, prix Goncourt. Une émeute littéraire". € 8,40 / 352 Seiten. Gallimard, Paris 2022.
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Sein intellektuell-sensitives Außenseiter-Kernerlebnis war die Affäre Dreyfus ab 1894/95, bei der er von Anfang an einer von wenigen war, die den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus für unschuldig hielten. 20 Jahre später stand Proust selbst im Zentrum eines Medienskandals. Am 10. Dezember 1919 wurde ihm für À l’ombre des jeunes filles en fleurs der Prix Goncourt zugesprochen. Was folgte, war ein Protest-Tornado. Thierry Laget zeichnet mit Verve die zahllosen Contras nach und die wenigen Pros.

Daria Galateria, "Il bestiario di Proust". € 15,– / 336 Seiten. Sellerio, Palermo 2022.
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Diese historische Vedute über Aufregung und Ablehnung, Rankünen und Manipulationen, katholisch-antijüdische Reaktionäre und Pazifisten entpuppt sich als hochpolitisch. Tatsächlich vollzog sich im Zuge der Preisverleihung an einen Autor eines scheinbar gegenwartsabgewandten Romans, kompletter Gegensatz zu den zuvor belorbeerten Kriegsromanen, qua "émeute", des Aufruhrs darob, eine sanfte Revolution, eine literarische Umwälzung.

Die Römerin Daria Galateria, die über französische Literatur publizierte, vieles übersetzte, Giono, Balzac, Diderot etwa, und die erste kommentierte italienische Übersetzung des Proust’schen Romans betreute, hatte eine betörende Idee – Prousts Bestiarium zu beschreiben. Und zwar nicht das vielköpfige humanoide, vielmehr das animalisch-zoologische. Und so ist dieses handliche Taschenbuch Il bestiario di Proust eine literarische Arche Noah. Sie füllt mit ihrer Folge von Nussschalen-Essays, von A wie Ape (Affe), Aquila (Adler) über Cane (Hund) und Giraffa (Giraffe), Microbo (Bakterie) zu Paguro (Einsiedlerkrebs), Tarma (Motte), Usignolo (Nachtigall) sowie Vipera (Viper), Zanzara (Stechmücke) und Zebra, erstaunlicherweise eine Lücke.

Luzius Keller, "Das Marcel Proust Alphabet". € 70,– / 1368 Seiten. Friedenauer Presse, Berlin 2022.
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Durch den Romandschungel

Der Zürcher Luzius Keller edierte 2009 die 1018 Seiten starke, klug revidierte und ergänzte Marcel ProustEnzyklopädie. Nun überschreitet diesen Umfang sein Alphabet nochmals um 400 Seiten. Dankenswerterweise. Denn so wie man sich in diesem Opus des 85-jährigen Romanisten festliest, passiert das nur selten. Ein Kreuz-und-quer-Verführer ist dieser guide, weit mehr als nur spröde Information mit Verweispfeilen. Vielmehr ein Füllhorn an Kundigkeiten. Wer etwa wusste, dass Honoré de Balzac dem Recherche-Publikum bereits im Titel des Romans entgegentritt?

Bekrittelte Proust bis 1913 den Titel zweier Balzac-Bücher als allzu aufdeckend, fand er im Mai jenes Jahres den Titel Auf der Suche nach der verlorenen Zeit via Balzac. Für jeden Proustianer ist dies ein famoses Promenier-Lesebuch, das nicht nur zwei getrennte Pfade durch den Romandschungel schlägt, sondern unzählige Wegrouten vorschlägt. Um diese durch Lektüre, hin-, her-, wegführende, zu intensivieren.

Roland Barthes, "Proust. Aufsätze und Notizen". Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Bernd Schwibs. € 28,80 / 352 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2022.
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Unter B sucht man ein Lexem, einen Namen vergeblich, "Barthes, Roland". Dessen 2020 in Paris erschienener Band Proust. Aufsätze und Notizen trägt im Original den Untertitel Mélanges. Vermischtes, nie Zusammengetragenes vereint der Band, Texte und Ideen-Notate, entstanden zwischen 1966 und 1978. Clou der Ausgabe sind die reproduzierten Karteikarten, zwischen Aphorismus, Miniatursteinbruch und Sprungbrett zu Längerem oszillierend. Wie für Proust war für Barthes der Tod der Mutter die tiefste Lebenszäsur. So meditiert er über die eigene Biografie, über Perspektive, Bild und Abbild, Fotografie und die Suche nach der Zeit des Einst. Schon im ersten Text, einer längeren Rezension der Painter’schen Proust-Biografie, taucht eine kombinatorische Ich-Verbindung auf.

Stephan Leopold, "Zusammenbruch und Erinnerung. Prousts Recherche". € 91,50 / 240 Seiten. Brill Fink, Paderborn 2022.
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Der Mainzer Romanist Stephan Leopold interessiert sich für eines. Für das Verhältnis von Roman-Erzähler und Gemeinschaft, zur, wie Leopold es nennt, "Affektgemeinschaft". Und: Er liest die Recherche nicht nur als Roman einer Suche, sondern auch als "spirituelle Pilgerschaft". Solcherart fasst er den Erinnerungsprozess des Erzählers. Dieser will, von Persönlichkeitsverlust befallen, laut Leopold, durch Erzählen, durch seine feinst mäandrierenden Erinnerungen sein Ich bestimmen. Wie die Recherche lesen, fragt Leopold in Zusammenbruch und Erinnerung. Prousts "Recherche". Er findet als Leitbild die Figuraltypologie, Denkfigur mittelalterlicher Bibelausdeutung, Bewegung und Gegenbewegung von Vorankündigung und Einlösung fassend. Dies als Basisstruktur von Prousts Prosa auszumachen leuchtet ein. Und erhellt einiges.

Am Lebensende stand Marcel Proust sein Verfahren klar vor Augen: die Verwandlung erinnerter Sinneseindrücke in subtile Sprache. Am Romanende, in Combray, es ist Nacht, die Eltern begleiten Swann zur Gartentür, tritt Marcel ans Fenster – und verdoppelt sich. Er ist jung, und er ist der ältere Mann, er blickt aus hoher Höhe und aus zeitlicher Distanz hinab. Dann folgt jenes Wort, "wie kein anderes herbeigesehnt" von Proust: "Fin", Ende. Stephan Leopold ergänzt diesen scheinbaren Schluss jedoch um eine öffnende Bemerkung in unsre eigne Lesezukunft: "Wir aber können nun von neuem beginnen." (Alexander Kluy, 18.11.2022)