Verlässt man den Bahnhof der französischen Alpenhauptstadt Grenoble, sieht man neben einer beeindruckenden Bergkulisse einen großen Parkplatz. Auf dem aber nicht – wie in vielen anderen Städten – Autos parken, sondern zahlreiche Fahrräder. Auf der anderen Seite des Bahnhofsvorplatzes steht ein kleines gelbes Gebäude: eine der Verleihstellen von Mvélo+, dem mit 9000 Rädern größte Fahrradverleih Frankreichs.

Hier kann man neben Stadtfahrrädern auch Tandems, Klappräder, E-Bikes oder Lastenfahrräder für einen Tag, einen Monat oder auch ein ganzes Jahr mieten. Dass dieses Angebot genutzt wird, schlägt sich im Stadtbild der französischen Radfahrhauptstadt nieder: Es gibt kaum einen Ort, an dem nicht zumindest ein gelbes Fahrrad abgestellt ist.

Die Stadt, die seit 2014 als erste größere französische Stadt mit Eric Piolle einen grünen Bürgermeister hat, hat in den letzten Jahren massiv in den Ausbau des Radwegenetzes investiert: Die 160.000-Einwohner-Stadt zählt mittlerweile rund 400 Kilometer Radwege, circa 40 Kilometer davon sind sogenannte "Chronovélo"-Achsen. Dabei handelt es sich um eigens markierte und baulich abgegrenzte Radfahrspuren, die bei genauem Hinsehen sogar etwas breiter sind als so manche Autospur. Sie verlaufen quer durch die Stadt und verbinden sie von Ost nach West und Nord nach Süd. Außerdem wurden viele der "Tempovélo"-Spuren – Fahrstreifen, die während der ersten Lockdowns für Autos gesperrt und als Radfahrstraßen genutzt wurden – beibehalten.

Fußgängerzonen und Tempo 30

"Wenn man möchte, dass sich die Menschen mehr mit dem Rad fortbewegen und auf sanfte Mobilität umsteigen, dann muss auch die Infrastruktur dafür entwickelt werden", ist Grenobles Vizebürgermeisterin Maud Tavel überzeugt. "Das bedeutet einerseits Radwege, auf denen man sich sicher fühlt, und andererseits ausreichend Fahrradstellplätze." Damit das gelingt, hat Grenoble Autofahren in der Stadt gezielt erschwert: Seit 2016 sind 50 Stundenkilometer die Ausnahme und Tempo 30 die Regel, Fußgängerzonen wurden schrittweise erweitert. "Für politische Entscheidungsträger sind solche Veränderungen oft schwierig, da Ergebnisse nicht sofort sichtbar sind und sie zunächst zu Unzufriedenheit führen. Schließlich müssen die Menschen ihr gewohntes Verhalten ändern", meint Tavel. "Langfristig führen solche Maßnahmen aber zu geringerer Luftverschmutzung und weniger Lärm."

Bei der Energieversorgung setzt Grenoble auf Solar-, Wind- und Wasserkraft. Zudem sorgt die Stadt für eine fahrradfreundliche Infrastruktur: Rund 400 Kilometer Radwege gibt es hier bereits.
Foto: Judith Moser

Spaziert man durch das Stadtzentrum Grenobles, versteht man sofort, worauf Maud Tavel anspielt: Hupen oder anderen Autolärm hört man kaum, dennoch sprüht die Stadt voll Leben. Kleine Läden reihen sich aneinander, zahlreiche Menschen flanieren durch die Gassen oder machen es sich auf einer der Café-Terrassen gemütlich. Denn für Ende Oktober ist es in der französischen Alpenhauptstadt mit 26 Grad ungewöhnlich warm. "Als ich vor fünf Jahren nach Grenoble gezogen bin, war schon Ende September Schnee auf den Berggipfeln zu sehen", bemerkt Justine Solier vom Kollektiv "Citoyens pour le climat", Bürger für das Klima. Sie glaubt, dass die Bevölkerung Grenobles aufgrund der Nähe zur Natur den Klimawandel bewusster wahrnimmt.

Klimaplan seit 2005

Die geografische Lage Grenobles hat sicherlich dazu beigetragen, dass man hier anderen Städten einen Schritt voraus ist: Umgeben von drei Bergmassiven, staut sich die Luft im Tal oft, was zu hoher Luftverschmutzung und stärker werdenden Hitzewellen führt. Alpenregionen spüren den Klimawandel besonders stark: Während die Temperatur in Frankreich um 1,4 Grad gestiegen ist, waren es in Grenoble zwei Grad.

Grenoble hat deshalb als erste Stadt Frankreichs bereits 2005 einen Klimaplan entworfen. Innerhalb von zehn Jahren gelang es der Stadt, ihre Treibhausgasemissionen um ein Viertel zu senken. Bis 2050 sollen die Emissionen halbiert werden. Auch der städtische Energiebetreiber GEG hat sich diesem Ziel verschrieben und setzt ausschließlich auf erneuerbare Energie aus Wasserkraft, Wind- und Sonnenergie. Laut Projektleiter Thierry Alleyron-Biron werden beim Ausbau von Photovoltaikanlagen dabei vor allem bereits verschmutzte Orte wie überdachte Parkplätze oder ehemalige Kohlebergwerke genutzt. Darüber hinaus versorgt die Biogasanlage Aquapôle, die Abwasser in Biogas umwandelt, bereits rund ein Drittel der städtischen Busse.

Umwelthauptstadt Europas

Bestrebungen wie diese haben Grenoble 2022 den Titel "Grüne Hauptstadt Europas" eingetragen: eine mit 350.000 Euro dotierte Auszeichnung der EU-Kommission für Großstädte, die sich durch umweltfreundliche, nachhaltige und soziale Stadtentwicklung auszeichnen. Da rund 70 Prozent der Menschen in Europa in Städten leben, soll der Titel ein Netzwerk schaffen, durch das europäische Städte voneinander lernen können.

Lernen kann man von Grenoble einiges: Rund die Hälfte der Kantinen in Schulen verwenden biologische oder lokale Produkte, die Stadt setzt auf urbane Landwirtschaft, und die städtischen Gärten kommen seit 2008 ohne chemische Produkte aus. Besonders ins Auge springt aber das hohe Engagement der Bürgerinnen und Bürger Grenobles, das von der Stadt etwa durch Baumpflanzaktionen wie "Begrüne deine Stadt" gefördert wird.

Bei der Energieversorgung setzt Grenoble auf Solar-, Wind- und Wasserkraft. Zudem sorgt die Stadt für eine fahrradfreundliche Infrastruktur: Rund 400 Kilometer Radwege gibt es hier bereits.
Foto: Alain FISCHER 2020 -- Ville de Grenoble

Die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger liegt laut Justine Solier vor allem daran, dass in Grenoble viele junge Wissenschafterinnen und Wissenschafter leben, die – wie sie selbst – kritische Geister sind. Sie begrüßt die Bestrebungen der Stadt im Kampf gegen den Klimawandel, meint jedoch, dass es noch viel Luft nach oben gibt: "Man kann nicht Fahrradwege schaffen und gleichzeitig die Autobahn ausbauen oder Grünflächen mit Einkaufszentren zubetonieren." Tatsächlich gehören viele Orte an den schönsten Plätzen der Stadt – an den Ufern der Flüsse Isère und Drac – noch den Autos: Eine Straße direkt an einem Ufer der Isère ist unter der Woche für den Autoverkehr geöffnet und nur an Sonntagen Menschen, die zu Fuß gehen oder mit dem Rad fahren, vorbehalten.

Dennoch tut sich dank kritischer Geister wie des Ingenieurs Franck Izoard einiges in Grenoble. Er war maßgeblich an der Planung des "Écoquartier de Bonne" auf dem Gebiet einer ehemaligen Militärkaserne beteiligt, das 2009 als erstes französisches Ökoviertel europaweit für Aufsehen sorgte.

Eine Oase in der Stadt

Das Viertel wirkt mit Teich und einem Spielplatz auf einem kleinen Hügel wie eine Oase mitten in der Stadt. Es setzt auf Biodiversität und soziale Durchmischung, die Gebäude verbrauchen wenig Energie. Mittlerweile ist der Titel "Écoquartier" zum Label geworden, um das sich immer mehr französische Städte bemühen.

Für Franck Izoard ist das Ökoviertel Bonne aber längst nicht mehr das Maß der Dinge: ein Projekt, auf das er stolz ist, für das er aber morgens nicht voller Tatendrang aus dem Bett springen würde.

Seine Augen strahlen umso mehr, wenn er von der "Éco-cité Presqu’île" spricht. Der neue Stadtteil gilt als Spielwiese für nachhaltige Stadtentwicklung. Er zeichnet sich unter anderem durch das bereits bewohnte energieautarke "ABC-Gebäude", kurz für "Autonomous Building Citizen", aus, dessen Solarpaneele schon von weitem zu sehen sind. Besonders stolz ist Franck Izoard aber auf ein geothermisches System, durch das Grundwasser in geringer Tiefe für die Beheizung, Kühlung und Wasserversorgung der Gebäude genutzt werden soll und nach anschließender Reinigung wieder der Isère zugeführt wird. Die Éco-cité soll im Vergleich zu den Ökovierteln nicht nur deutlich größer und ambitionierter angelegt werden, sondern vor allem noch weniger Energie verbrauchen, denn "Écoquartiers waren gestern. Heute gilt es, die Stadt von morgen zu gestalten". (Judith Moser, 16.11.2022)