Die meisten Menschen nutzen einen Umzug, um sich von Altlast zu trennen. August Wöginger nicht. In seinem Büro im Ausweichquartier des Parlaments hat der Klubobmann der ÖVP auf Regalen ein kleines Museum geschaffen: Fotos, Kugelschreiber und Tassen im Türkis der "neuen Volkspartei", wie sie hieß, ein Spielzeugrettungswagen, Bücher, ein Hufeisen – Wöginger sammelt Andenken aus seiner politischen Laufbahn. Und er werde jedes Stück mitnehmen, wenn er Anfang Dezember ins renovierte Parlament rückübersiedelt.

"Wir feiern hier nicht die heilige Messe", sagt ÖVP-Klubchef August Wöginger, seit 20 Jahren Abgeordneter, zu Debatten im Hohen Haus.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Sie sind inzwischen seit 20 Jahren Parlamentarier. Sebastian Kurz sagt, das Parlament sei "ein Ort mit sehr viel negativer Energie". Hat die schon auf Sie abgefärbt?

Wöginger: Das Parlament ist natürlich der Ort des politischen Diskurses – und das ist gut so. Ich sage immer: Wir feiern hier nicht die heilige Messe. Ein Politiker darf auch emotional sein, das müssen die anderen aushalten. Aber was zugenommen hat, sind persönliche Untergriffe und Diffamierungen. Daran sollten wir arbeiten. Vielleicht gelingt das mit der Rückkehr ins historische Gebäude, dass sich alle einmal wieder am Riemen reißen.

STANDARD: Als ein Part im Duo "Sigi und Gust" gelten Sie gemeinsam mit Grünen-Klubchefin Sigrid Maurer als Kitt der Koalition. Wann haben Sie zuletzt mit Maurer gestritten?

Wöginger: Wir streiten generell nicht. Wir haben unterschiedliche Anschauungen, bei uns geht es aber darum, Positionen zusammenzuführen, damit wir Lösungen finden. Sigi ist eine wirklich exzellente Klubobfrau.

STANDARD: Bürgerinnen und Bürger sind von der koalitionären Zusammenarbeit weniger angetan. In Umfragen befindet sich Türkis-Grün im Sturzflug. Warum ist die Regierung so unbeliebt?

Wöginger: Es ist eine herausfordernde Zeit. Die Menschen haben Sorgen und Nöte, die sie tagtäglich spüren. Wir versuchen, das bestmöglich abzufedern, aber wir werden nicht jeden Euro ausgleichen können. Es ist in der Bevölkerung eine gewisse Unsicherheit da, wie es weitergeht – und das schlägt sich auch auf die Stimmung nieder.

"Es werden sich all jene, die Fehler begangen haben, verantworten müssen. Es kann aber auch nicht sein, dass es ständig zu Vorverurteilungen kommt."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Die Stimme verschlägt es vielen auch deshalb, weil ständig neue mutmaßliche Korruptionsfälle der ÖVP bekannt werden.

Wöginger: Das ist auch herausfordernd für unsere Partei, keine Frage. Es werden sich all jene, die Fehler begangen haben, verantworten müssen. Es kann aber auch nicht sein, dass es ständig zu Vorverurteilungen kommt.

STANDARD: Ihr guter Freund und Parteifreund Kanzler Karl Nehammer sagt, es tue ihm leid, welches Bild die Politik abgebe. Wer außer der ÖVP gibt denn ein verheerendes Bild ab?

Wöginger: Mir sagen Bürgerinnen und Bürger, wenn sie Parlamentsdebatten verfolgen, dass man so nicht miteinander umgehen soll. Dass man das Miteinander wieder in den Vordergrund stellen soll.

STANDARD: Aber warum können ÖVP-Politiker nicht einfach einmal klipp und klar sagen: Nicht das Bild, das die Politik abgibt, sondern das Bild, das die ÖVP abgibt, ist fatal?

Wöginger: Ich glaube, das wollte der Kanzler mit seinen Worten zum Ausdruck bringen. Dass er es zutiefst ablehnt, was da passiert ist. Er sagt aber auch, dass letzten Endes die Justiz und die Gerichte zu entscheiden haben, ob es eine Straftat gibt oder nicht.

"Die Europäische Union hat sieben Jahre lang verschlafen, tragfähige Lösungen zum Schutz der Außengrenzen auf den Tisch zu legen."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Auch Sie selbst sind mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Wurden Sie schon einvernommen?

Wöginger: Nein, diesbezüglich hat es überhaupt keinen Kontakt zu mir gegeben. Ich möchte aber schon sagen: Ein Bürgeranliegen weiterzugeben, das kann keine Straftat sein.

STANDARD: Die Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf Anstiftung zum Amtsmissbrauch. Sie sollen 2017 bei Thomas Schmid, dem damaligen Generalsekretär im Finanzministerium, interveniert haben, um einem ÖVP-Bürgermeister aus Ihrer Region zur Leitung des Finanzamts für Braunau, Ried und Schärding zu verhelfen.

Wöginger: Der angesprochene Bürgermeister war bei mir beim Sprechtag, hat mir von seiner Bewerbung erzählt und gefragt, ob ich sein Anliegen weitergeben könnte. Und ich habe das an Schmid weitergeleitet. Was der damit gemacht hat, weiß ich nicht.

STANDARD: Laut Schmids Einvernahmeprotokoll haben Sie sich "ganz konkret dafür eingesetzt", dass dieser ÖVP-Bürgermeister den Posten bekommt. Welches Verhältnis hatten Sie zu dem angesprochenen Bürgermeister?

Wöginger: Der Bürgermeister stammt nicht einmal aus meinem Wahlkreis, dem Innviertel. Er stammt aus dem Wahlkreis Mühlviertel. Aber wir kannten uns seit vielen Jahren. Ich habe auch in anderen Situationen viele Anliegen weitergegeben. Das ist unsere Aufgabe als Politiker: Bürgeranliegen entgegenzunehmen und weiterzuleiten.

STANDARD: Sie bestreiten also gar nicht, dass das alles so stattgefunden hat, aber sehen darin kein Problem?

Wöginger: Genau so ist es. Wenn jemand zu meinem Sprechtag kommt und mir sagt: "Ich habe mich beworben, kannst du mir das weiterleiten?", dann mache ich das. Der Bürgermeister ist ein guter Mann, er war aus meiner Sicht geeignet und qualifiziert. Er hat immerhin eine Gemeinde verwaltet und ein Budget verantwortet. Ich kann Ihnen versichern, dass auch Abgeordnete anderer Parteien bei ihren Sprechtagen nicht nur Kaffee trinken und über das Wetter reden.

STANDARD: Der ÖVP-Bürgermeister war nachweislich nicht der geeignetste Kandidat. Die nicht zum Zug gekommene Bewerberin hat die Postensetzung juristisch bekämpft und recht bekommen. Es liegt der Schluss nahe: Abseits von Qualifikation war Ihre Intervention erfolgreich.

Wöginger: Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe das im Nachhinein aus den Medien erfahren, weil ich mich nicht erkundigt habe, wer sich beworben hat, und schon gar nicht habe ich mich dafür interessiert, wie das entschieden wurde.

STANDARD: Haben Sie in den vergangenen Wochen und Monaten an einen Rücktritt gedacht?

Wöginger: Man denkt über vieles nach in Zeiten wie diesen. Ich bin tagelang auf Titelseiten gestanden – immer im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Korruption. Ich will gar nicht anders behandelt werden als jeder andere Staatsbürger, aber es findet definitiv eine Vorverurteilung statt. Ich hoffe auf eine zeitnahe Entscheidung.

"Ich kann Ihnen versichern, dass auch Abgeordnete anderer Parteien bei ihren Sprechtagen nicht nur Kaffee trinken und über das Wetter reden."

STANDARD: Themenwechsel: Die Pflege ist eines Ihrer Herzensanliegen. Gibt es in Ihrem Umfeld eigentlich einen Pflegefall?

Wöginger: Mein Schwiegervater, der leider vor zwei Jahren verstorben ist, war ein Pflegefall. Meine Schwiegermutter bezieht Pflegegeld. Ich kann die dadurch entstehenden Herausforderungen also gut nachvollziehen. Und ich glaube, wir haben mit der vor dem Sommer beschlossenen Pflegereform das getan, was höchst notwendig war: nämlich Geld in die Hand zu nehmen, damit wir die hochqualitative Pflege in Österreich auch in den nächsten Jahren absichern.

STANDARD: Noch nicht beschlossen wurde der versprochene Bonus für pflegende Angehörige. Wann kommt er?

Wöginger: Der Bonus ist legistisch herausfordernd, aber wir werden hoffentlich zeitnah eine Lösung finden.

STANDARD: Der grüne Sozialminister Johannes Rauch sagt, Österreich sei als Zuwanderungsland nicht attraktiv. Es brauche aber dringend Zuwanderung für den Arbeitsmarkt – unter anderem in der Pflege. Geben Sie ihm recht?

Wöginger: Zuwanderung ist nicht gleich Zuwanderung. Ja, wir brauchen qualifizierte Zuwanderung. Aber wir werden nicht jeden Asylwerber in den Pflegeberuf bringen.

August Wöginger im Gespräch mit den STANDARD-Redakteurinnen Katharina Mittelstaedt und Sandra Schieder.

STANDARD: Für Asylwerber musste der Bund nun wieder Zelte aufstellen, weil die Länder ihre Verteilungsquoten nicht erfüllen. Das erinnert an 2015. Wieso hat man daraus nicht gelernt?

Wöginger: Österreich hat derzeit die zweitstärkste Pro-Kopf-Belastung innerhalb Europas. Und es ist natürlich herausfordernd, dass wir diese Menschen, die ein Recht auf Asyl haben, auf ganz Österreich verteilen. Ich habe aber dem Treffen mit den Landeshauptleuten entnommen, dass auch die Bundesländer hier mehr tun wollen. Eines muss man aber schon auch sagen: Die Europäische Union hat sieben Jahre lang verschlafen, tragfähige Lösungen zum Schutz der Außengrenzen auf den Tisch zu legen. Das ist ein Aufruf in Richtung Europa, in die Gänge zu kommen.

STANDARD: Sie finden, das europäische Asylrecht gehört überarbeitet?

Wöginger: Ja, das würde ich meinen. Auch die Menschenrechtskonvention gehört überarbeitet. Wir haben mittlerweile eine andere Situation, als es vor ein paar Jahrzehnten der Fall war, als diese Gesetze geschrieben wurden. Auch das, was in der Halloween-Nacht in Linz stattgefunden hat, ist inakzeptabel. Wenn wir Menschen Asyl gewähren, erwarten wir uns, dass unsere Gesetze eingehalten werden, ansonsten haben sie hier nichts verloren. Ich verstehe alle Menschen, denen es hier die Zornesröte ins Gesicht treibt.

STANDARD: Erlebt Österreich in Ihren Augen gerade wieder eine Flüchtlingskrise?

Wöginger: Ich bin mit dem K-Wort vorsichtig geworden. Ich bin aber Optimist und rechne damit, dass Österreich auch diese Herausforderung gut meistern wird.

STANDARD: Ihr Aufstieg zum Klubobmann war mit dem Aufstieg von Sebastian Kurz zum Bundeskanzler verbunden. Sind Sie eigentlich von ihm enttäuscht?

Wöginger: Nein. Ich habe mit Sebastian Kurz über Jahre hinweg gut zusammengearbeitet. Ich möchte die Zeit nicht missen. (Katharina Mittelstaedt, Sandra Schieder, 11.11.2022)