Der umstrittene "Aufstandsparagraf" im spanischen Strafgesetzbuch verschwindet. Die Regierungskoalition aus Sozialisten und Linksalternativen unter Ministerpräsident Pedro Sánchez hat am Freitag einen Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht, der den Tatbestand "Aufstand" durch "schwere öffentliche Unordnung" ersetzen wird.

Die Höchststrafe für "Aufstand" waren 15 Jahre Haft, für die "schweren Unruhen" werden es nur noch fünf Jahre sein. Es gehe der Regierung darum, "das Delikt des Aufstandes durch einen Straftatbestand zu ersetzen, den andere europäische Demokratien ebenfalls kennen", erklärt Sánchez.

Die spanische Justiz soll sich in Zukunft gegenüber Befürwortern der katalanischen Unabhängigkeit milder zeigen.
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Sánchez setzt damit ein Wahlversprechen um. Eine Mehrheit im Parlament gilt als sicher. Denn außer mit den beiden Parteien der Minderheitsregierung kann Sánchez mit den Stimmen nationalistischer Parteien aus dem Baskenland und Katalonien sowie kleinerer linker Formationen rechnen.

2018 waren neun Unabhängigkeitspolitiker und -aktivisten aus Katalonien zu bis zu 13 Jahren Haft wegen Aufstands und Veruntreuung verurteilt worden. Das Vergehen der mittlerweile Begnadigten: Sie hatten in ihrer nordostspanischen Heimat am 1. Oktober 2017 trotz Verbots aus Madrid ein Unabhängigkeitsreferendum abgehalten. Bis auf wilde Polizeieinsätze gegen wartende Wählerinnen und Wähler blieb dies völlig friedlich. Dennoch wertete das Oberste Gericht den Wahltag als Aufstand.

Unverständnis in Europa

Im restlichen Europa stieß dies bei den Juristen auf Unverständnis. Mehrere Politiker, die den Weg ins Exil angetreten hatten, werden von der spanischen Justiz wegen ebenjenes vermeintlichen Aufstandes mit europäischem Haftbefehl gesucht, darunter der einstige Präsident der katalanischen Regierung Carles Puigdemont, der in Brüssel lebt und einen Sitz im Europaparlament innehat. Sowohl deutsche als auch belgische, schottische und Schweizer Richter lehnten eine Auslieferung der Beschuldigten ab. Einen "Aufstand" wollten sie einfach nicht feststellen.

Die Reaktion auf die Gesetzesreform in der rechten Opposition fällt heftig aus. Alberto Nuñez Feijóo, Chef der stärksten Oppositionsparte, wirft Sánchez "historische Verantwortungslosigkeit" vor: Er würde "seine politischen Interessen über die Spaniens" stellen. Soll heißen: Sánchez ändert das Gesetz, um sich die Unterstützung der Katalanen bei der anstehenden Budgetabstimmung zu sichern. Die rechtsextreme Vox – drittstärkste Partei im spanischen Parlament – geht noch einen Schritt weiter und beschimpft den Ministerpräsidenten gar als "Verräter". Und für die rechtsliberalen Ciudadanos hat Sánchez "keinerlei Skrupel".

In Katalonien stößt die Reform auf geteilte Meinungen. Sie sei ein Schritt, "den Konflikt aus den Gerichten zurück auf die politische Eben zu bringen – erklärt der katalanische Regierungschef Pere Aragonès von der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC). Er will auf Madrid zugehen und verhandeln. Sein Ziel ist ein erneutes Referendum in beiderseitigem Einverständnis. Sánchez lehnt dies allerdings strikt ab.

Puigdemont im Brüsseler Exil zeigt sich kritischer. "Wenn der 1. Oktober 2017 jetzt kein Fall von Aufstand, sondern schwerer öffentlicher Unordnung ist, weiß ich nicht, wo der politische Gewinn aus all dem liegt", erklärt er. Für Puigdemont ist eine Unabhängigkeitsabstimmung ein Bürgerrecht. Wahrscheinlich wird die spanische Justiz gegen ihn mit dem neuen Gesetz – sobald es in Kraft tritt – wieder einen Auslieferungsantrag stellen. Dann wird sich zeigen, ob die Richter außerhalb Spaniens in einem friedlichen Wahltag "schwere öffentliche Unordnung" sehen oder nicht. (Reiner Wandler aus Madrid, 11.11.2022)