Dicke Lippen und Puppennasen: Junge Mädchen kommen mit Bildern mit Snapchat-Filtern zum Beauty-Doc.

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Istanbul. Man flaniert durch die Straßen, die Sonne strahlt selbst im Herbst noch golden, da laufen drei Mädels an einem vorbei – mit eingegipster Nase. Es sitzen zwei junge Männer im Café mit Schweißbändern am Kopf wie einst Björn Borg. Diagnose: absolvierte Haartransplantation, erkennbar an der Abwesenheit von Tennisschlägern und Anwesenheit tausender blutiger Punkte auf der Kopfhaut. Zwischen normalen Touristen und Einheimischen erkennt man sie sofort: die Schönheitstouristen. Weil Operationen in der Türkei günstiger als zu Hause bei gutem Standard sind und man für freiwillige OPs ohnedies Urlaub nehmen muss, hat sich Istanbul zur Beauty-Hauptstadt für Europäer entwickelt – gut zwei Flugstunden von Wien entfernt. Dass sich die türkische Lira im Sinkflug befindet, macht die Eingriffe noch erschwinglicher.

Neue Beauty-Hauptstadt

Zeit für eine Spurensuche dort. Denn immer mehr Leute lassen "was machen", in allen Milieus und Bildungsschichten, immer mehr Männer, immer mehr Jüngere, selbst die Intelligenzija verschönert sich. US-Präsident Joe Biden (79) hat sich über die Jahre einer Komplettsanierung unterzogen, der deutsche Finanzminister Christian Lindner (43) steht zu seiner Haartransplantation, und Chemie-Nobelpreisträgerin Frances H. Arnold hat mit 66 Jahren keine Falte im Gesicht, was wohl nicht nur an ihrer Protein-Expertise liegt.

Und so werden Busen vergrößert, Haare vermehrt, Bäuche verflacht, Pos angehoben, Beine verschlankt, Nasen verschmälert, Stirnen lahmgelegt, Ohren angelegt, Doppelkinne gestrafft, Falten aufgepolstert, Augenlider angehoben, Tränensäcke geglättet und Lippen aufgepumpt. Ein extremer Demokratisierungsprozess: Inzwischen kann sich so gut wie jeder einen Eingriff leisten. In Istanbul gibt es Haartransplantationen um 1400 Euro, inklusive Transfers, dreier Nächte im Hotel und Medikamenten. Aber auch in renommierten Kliniken wie Acıbadem, wo man sich in Klinikzimmern wie im Designhotel erholt, gibt es eine Fettabsaugung schon ab 1500 Euro, man kann sich im Wiener Büro eine Art Beauty-Pauschalreise buchen.

Die Acıbadem-Klinik in Istanbul wirkt fast wie ein Luxushotel. Über das Wiener Büro kann man so etwas wie einen Schönheits- OP-Pauschalurlaub buchen.
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Lars Kamolz von der Medizinischen Universität Graz sagt: "Die plastischen Chirurgen in der Türkei sind in der Regel sehr gut ausgebildet, viele von ihnen sogar in Österreich." Nur: Komplikationen könne jeder bekommen. "Daher ist es wichtig, dass die Nachbehandlung geklärt ist. Bleibt mein Chirurg nach der OP mein Ansprechpartner? Das muss geregelt sein, sonst Finger weg." Wie ist es, sich tausende Kilometer von zu Hause von einem Arzt, der kein Deutsch spricht, behandeln zu lassen?

Bestseller Mummy-Make-Over

Istanbul, Acıbadem-Uni-Klinikum Atakent, Zimmer 4603. Hier liegt Daria Skamrahl (33). Im TV läuft Hartz und herzlich, man empfängt hier RTL 2. Daria kommt aus Deutschland, lebt auf Bali, hat kroatische Wurzeln. Weil sie am Geburtstag ihrer Mutter zur Welt kam, nannte ihre Mama sie ihr "Geschenk" auf Kroatisch, Daria. Sie ist bildschön, nun gibt es am Geschenk aber etwas auszusetzen: Die Beine sind zu dick. "Ich habe immer nur lange Hosen getragen." Ihr Traum ist es, ihren Mann noch einmal "in einem Brautkleid, das vorne bis zu den Knien geht", zu heiraten. Daria hat ein "Lipödem", jedoch in schwacher Ausprägung. Sind ihre Beine wirklich zu dick? Die Krankenkasse sagt Nein, Daria sagt Ja – weswegen der Eingriff als Schönheits-OP gilt und sie ihn selbst zahlen muss. "Mein Mann macht mir das möglich", genau genommen.

In einer fast siebenstündigen Prozedur wurden ihr fünf Liter Fett abgesaugt und der Po angehoben. "Ich habe das Gefühl, dass die Beine platzen. Die Schmerzen fühlen sich an wie ein brennender Muskelkater, bei dem man die Treppe nicht hochkommt." Die Klinik wurde ihr von einem Fitnessstudio-Freund empfohlen, erzählt sie. Mit dem Eingriff ist Daria zufrieden. Ihre Mutter war an ihrer Seite, allerdings "nur bis Sonntag", dann musste sie arbeiten. Deswegen ist Darias engste Vertraute momentan die Dolmetscherin Nafiye Şener. Sie übersetzt die Konversationen mit dem Krankenhauspersonal. Würde Daria noch eine OP machen lassen? "Vielleicht die Schlupflider", sagt Daria. Nafiye witzelt: "So lang, wie du jetzt schon hier bist, hättest du das schon machen lassen können" – aber eigentlich meint sie das ernst, das merkt man.

Die Deutsche Daria Skamrahl hat sich hier vor ihrer Hochzeit Fett absaugen und den Po liften lassen.
Foto: Nora Reinhardt

Es ist nur konsequent, dass es jetzt OPs im Set gibt. "Einer unserer Bestseller ist das Mummy-Make-over", sagt Oğuz Şahin von Acıbadem. Wer will, kann eine Brust-, Arm-, Oberschenkelstraffung, Fettabsaugung und Po-Anhebung an einem Tag absolvieren, im Paketpreis. Ein Daddy-Make-over gibt es dort noch nicht – verwunderlich, sollen doch schon Väter mit Bauch, ausgeleiertem Hintern und schütterem Haar gesichtet worden sein. Und Karsten Sawatzki (59), mit Kliniken in München und Kitzbühel, hat die "Instagram-OP" erfunden. Im Urlaub sei ihm aufgefallen, dass Frauen sich für Selfies immer gleich inszenieren: von oben, mit Dekolleté, Schmollmund und Stupsnäschen – man kriegt also eine Busen-, Lippen- und Nasen-OP. Er spritzt die Lippen aber nicht auf, sondern hebt die Oberlippe nachhaltig an, im "Bullhorn Lift", wo ein Stück Haut zwischen Nase und Lippe herausgeschnitten wird. Man zahlt nur einen Aufenthalt, fällt nur einmal aus. "Normalerweise würden die OPs über 20.000 Euro kosten, so nur 15.000 Euro", so Sawatzki.

Eine Nase wie Romina

Das Paradox unserer Zeit: Die, die es am wenigsten bräuchten, lassen sich am häufigsten operieren. Auch Daria hätte den Eingriff schon mit 20 machen lassen, hätte sie es sich leisten können. Mehr als die Hälfte der Busen-OPs und knapp zwei Drittel der Nasen-OPs weltweit werden an 19- bis 34-Jährigen durchgeführt, schreibt Werner Mang (73) in seinem radikalen Buch Abgründe der Schönheitschirurgie. Greta Nehrer (54), Fachärztin für plastische Chirurgie in Wien, sagt, dass sich laut einer britischen Studie 70 Prozent aller 14- bis 24-Jährigen "einen plastisch-chirurgischen Eingriff wünschen". Den Trend sieht Nehrer kritisch. Dass die Zahl der Beauty-Eingriffe weltweit steigt – allerdings nicht bei den Älteren, wo die Schwerkraft ja tatsächlich, na ja, wirkt, sondern bei den Jüngeren –, ist eine bemerkenswerte Entwicklung der letzten Jahre.

Was sagen die Patienten den Ärzten über ihre Gründe? Sawatzki schätzt, 50.000 Frauen beraten zu haben. Brust-OPs seien früher von Frauen nach Schwangerschaften gewünscht worden, um den Vorher-Zustand herzustellen. Nun kämen jüngere Frauen, und die wollten schlicht und einfach größere Brüste. Kamolz erzählt, manche brächten Screenshots von Snapchat als Vorlagen für die Operationswünsche mit. "Durch Social Media werden junge Menschen mit einer Flut an gefilterten, makellosen Gesichtern konfrontiert", so Nehrer. Früher habe man "ein Geheimnis aus Behandlungen gemacht, heute werden Eingriffe bei den Beauty Docs gefilmt und verbreitet". Mang berichtet von 12- bis 14-jährigen Mädchen, die in seiner Sprechstunde sitzen: "Wenn eine Influencerin wie Romina Palm mit großem Busen, aufgespritzten Lippen und einer Puppennase posiert", kämen sie zu ihm, weil sie auch so aussehen wollen.

Per Whatsapp zum Eingriff

Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte kann man sich so oft, so lange und so ungeniert selbst betrachten – beim Facetimen mit Omi, beim Selfie, beim Filmen eines Tiktok-Videos, und seit 2020 blickt man sich öfter porentief bei Video-Calls ins Gesicht. Die Selbstbegutachtung im Quellwasser, mit der Narziss sich begnügen musste, ist passé. Gleichzeitig hatten Menschen noch nie die schiere Möglichkeit, so viele Gesichter sehen zu können: durchs TV, Internet, Reisen. Heute kann man auf Tiktok binnen einer Stunde 1000 Gesichter betrachten – natürlich, operiert, geschminkt, mit Filter. "Snapchat Dysmorphia" ist der Fachbegriff für eine neue Wahrnehmungsstörung, bei der das Bearbeiten von Fotos und Videos zu unrealistischen Schönheitsidealen führt.

Aber ist es nicht zu einfach, Social Media die Schuld zu geben? Die Klientel der Chirurgen bezeichnet die Plattformen zwar als Inspiration, andererseits sieht man dort ja auch Menschen aus unterschiedlichen Kulturen mit vielen Körperformen, mit Makeln oder Behinderungen – und Leute, die Eingriffe bereuen. Tiktok-Userin Claireinnyc machte kürzlich ihre Busen-Vergrößerung rückgängig, Tiktok-Userin Koko Beaute ließ sich ihre ausgelaufenen Filler aus ihren Lippen fummeln – Social Media ist ja auch unglaubliche Transparenz fremder Menschen.

Wie jedes Medium verstärkt es nur das, was da ist. Wer einer Influencerin im Beauty-Wahn folgt, bekommt dank des Algorithmus ähnliche Videos vorgeschlagen. Wer einer rustikalen Farmerin im Nirgendwo folgt, bekommt keine Beauty-Videos aufs Handy. Wahrscheinlich nimmt die Zahl der Beauty-Eingriffe unter den Jungen so rapid zu, weil ein noch nicht so gefestigtes Selbstbild auf zehn Stunden Social-Media-Konsum pro Tag trifft und kleine Eingriffe wie Filler und Botox auch mit etwas Sparen erschwinglich sind. Wer in sich gefestigt ist, lacht es weg, wenn er dank eines Filters feststellt, dass er mit grünen Augen und kantigerem Kinn besser aussähe.

Spaziergang durch Istanbul, überall Beauty-Kliniken. Einen Termin für einen Eingriff bekommt man hier oft nicht mit mehr Aufwand als einen Friseurtermin. Fast allen Kliniken kann man per Whatsapp schreiben. Welcher Mittzwanziger möchte schon Arzttermine ausmachen und Papierkram durcharbeiten? Gibt man "Clinic Expert" ein, meldet sich ein persönlicher medizinischer Berater, schreibt sekundenschnell, was es im Angebot gibt (Zähne, Haare, Magenband), berät, organisiert eine kostenlose Anfahrt, auch gerne am Samstag. "Kein Problem, komm vorbei." So easy läuft das in Österreich nicht. (Nora Reinhardt, 13.11.2022)