Im Transparenzblog "So sind wir" berichtet die STANDARD-Redaktion über die eigene Arbeitsweise. Nach welchen medienethischen Grundregeln handeln wir? Aus welchen Fehlern lernen wir? Wir machen unsere Selbstreflexion öffentlich.

Sebastian Kurz habe ich kennengelernt, da war er noch in keiner Regierungsfunktion, sondern nur Obmann der Jungen ÖVP. Es war eine ÖVP-Klausur, Josef Pröll war Parteiobmann und Vizekanzler. Die Klausur war in den Bergen, das war Teil der Inszenierung. Am Abend saßen wir in einer urigen Hütte beisammen, das war erst recht Teil der Inszenierung. Neben mir saß Sebastian Kurz. Seitdem sind wir per Du.

Zwangsläufiger Kontakt

Seitdem haben wir auch Kontakt gehalten, zwangsläufig, das ist unser Beruf. Ich gerate dennoch nicht in den Verdacht, mit ihm oder seiner Partie verhabert zu sein. Ich bin derjenige, der anlässlich seiner Bestellung zum Integrationsstaatssekretär im Jahr 2011 jenen Kommentar schrieb, den er gerne in Vorträgen zitiert und der auch in seiner aktuellen Biografie nicht fehlen darf: Es kommt darin das Wort "Verarschung" vor. Das dient Kurz bis heute als Beleg dafür, wie unrecht ihm Medien taten und nach wie vor tun. "Ein Profilierungsneurotiker, dem es nicht um die Sache, sondern um den gepflegten Krawall geht", schrieb ich.

Nah dran oder weit weg: Das Verhältnis zwischen Sebastian Kurz und den Medien war immer ein schwieriges und fußte auf einem Missverständnis.
Foto: Heribert Corn

Jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit veranstaltete Kurz einen Punschumtrunk. Als Staatssekretär in bescheidenem Rahmen, als er Außenminister wurde, war das schon üppiger. Als er Kanzler war, geriet dieses Punschtrinken zu einem riesigen Event, zu dem die halbe Republik andackelte, um Kurz die Aufwartung zu machen. Prominente drängten hin, um Kurz die Aufwartung zu machen, natürlich waren auch viele Journalistinnen und Journalisten dort, immer mehr.

Blick hinter die Kulissen

Ich war von Anfang an dabei, das gehört dazu, wenn man Kontakt halten und hinter die Kulissen blicken will. Was Kurz konnte und was er auch tat: mit jedem ein paar Worte wechseln. Ein Gefühl der Vertrautheit vermitteln. Ambitionierte Politiker machen das so. Das hat Kurz wohl von Erwin Pröll, dem ehemaligen Landeshauptmann von Niederösterreich, gelernt, der ein Großmeister des persönlichen Kontakts war.

Als Journalist ist man im Umgang mit Politikern einem Zwiespalt ausgesetzt: Die Chefredaktion und die Leserschaft erwarten sich – zu Recht – eine kritische Kommentierung und ein profundes, argumentatives Unterfutter für die scharfen Worte. Damit macht man sich in der Politik keine Freunde.

Die Chefredaktion erwartet sich auch ein Insiderwissen, gute Kontakte, exklusive Informationen, dass das Medium bei Interviews immer vorn dabei ist. Das gehört zum Job dazu, und die guten Kontakte sind das wertvollste Kapital von Innenpolitikjournalistinnen und -journalisten. Das bedingt aber auch eine gewisse Nähe und einen Zugang zu jenen, über die man berichtet. Keine Verhaberung und keine Vertrautheit, aber ein gewisses Vertrauen. Wer Infos aus erster Hand will, braucht einen direkten Draht. Das ist mitunter eine heikle Gratwanderung, auf der man gerne allein gelassen wird. Auch in der eigenen Redaktion.

Freund-Feind-Schema

Wenn Politikerinnen und Politiker wirklich professionell agieren würden, wäre das kein Problem. Aber unser politisches Personal geht selten professionell an die Kontaktpflege heran. Sie wenden das Freund-Feind-Schema an. Kurz ganz besonders: Bist du nicht für mich, bist du gegen mich. Entweder gehört man dazu, oder man gilt als Gegner. Mehr noch: als Feind. Umgekehrt: Ergibt sich eine gewisse Nähe, wird man umarmt. (Und lässt sich umarmen.) Beispiele werden gerade in der Öffentlichkeit diskutiert.

In diesem Spiel aus Nähe und Distanz gibt es Belohnung und Strafe: Das ist nichts, was nur auf Kurz gemünzt ist, das machen viele Politiker so, und unter dem SPÖ-Kanzler Werner Faymann, nur zum Beispiel, war das besonders ausgeprägt: Er teilte die Medienwelt strikt ein in Freund und Feind. Freundliche Berichterstattung wurde belohnt (auch mit Inseraten), Kritik wurde sanktioniert. Der Pressesprecher sprach es offen aus: "Bei diesem Kommentar brauchst du dich nicht wundern, dass du kein Interview bekommst." Gilt im Prinzip bis heute.

Intensive Pressearbeit

Was bei Kurz ganz besonders war: Er legte mehr Wert auf die öffentliche und veröffentliche Meinung als andere Parteichefs oder Kanzler. Und er arbeitete noch intensiver mit Umfragen, an denen er sich auch orientierte, mehr noch als andere. Kurz ließ die öffentliche Meinung ausloten, so gut das ging. Und er arbeitete damit. Was ihn in seiner Pressearbeit von anderen Politikern wirklich abhob, waren die Intensität und die Konsequenz, mit der er daranging. Zum einen war die Betreuung der Medien wirklich intensiv, also auch in einem positiven Sinn professionell, zum anderen wurden rasch Grenzen überschritten. Die Message-Control, also die versuchte und bewusst gesteuerte Manipulation der Öffentlichkeit, wurde unter Kurz perfektioniert.

Diese Fixierung auf die öffentliche Meinung entstand aus einer Mischung aus persönlicher Eitelkeit und dem Wissen um die Macht der Medien. Kurz war es nicht egal, wie er gesehen wurde, er wollte geschätzt und geachtet werden. Und er wusste: Wenn er die öffentliche Meinung auf seiner Seite hat, geht vieles leichter. Wenn er die öffentliche Meinung steuern oder sogar manipulieren konnte, kam er dem Erreichen seiner Ziele rascher näher. Das bedingt eine gewisse Skrupellosigkeit, birgt aus seiner Sicht aber auch eine gewisse Effizienz in sich.

Gute Medienkontakte sind dabei hilfreich. Kurz bemühte sich also um Journalistinnen und Journalisten. Er widmete dem richtig viel Zeit. Er führte Gespräche, erklärte sich, hörte aber auch zu, fragte nach. Da war er nicht der erste und der einzige Kanzler, der dies bewusst tat. Und er tat es nicht nur, um eine andere Sichtweise zu erfahren, sondern auch um seinem Gegenüber zu schmeicheln. Das tat schon Wolfgang Schüssel so, und das tat auch Christian Kern so. Aber bei Kurz war irgendwann der Punkt erreicht, wo er sich entschied: Freund oder Feind. Nah dran oder man rückt an einen weit entfernten Rand des medialen Kreises um den Kanzler.

Vertraulich, nicht konspirativ

Geheimnisumwittert sind im Nachhinein die Hintergrundgespräche, zu denen Kurz regelmäßig einlud. Diese waren vertraulich, aber nicht konspirativ: Die Treffen fanden in der Politischen Akademie der ÖVP in Wien-Meidling statt. Wenn man es positiv auslegt: Sebastian Kurz wollte sich und seine Regierungsarbeit erklären. Er bot Gelegenheit zu einem offenen Gespräch, bei dem er nicht Angst haben musste, mit einer zugespitzten Formulierung in der Zeitung zu stehen – und so leichter reden konnte. Es war Bedingung, nicht über diese Veranstaltung zu berichten.

Man kann es auch so sehen: Kurz hat versucht, die Medien zum Bestandteil seiner Maschinerie zu machen. Sie so einzubinden und einzulullen, dass sie sich dem Großen und Ganzen, also seinem Großen und Ganzen, verpflichtet fühlen. Das Mindeste war, den Geschichten und Themen einen gewissen Spin zu geben. Tatsächlich war es in dieser Runde mitunter überraschend festzustellen, wie amikal und selbstverständlich der Umgang mancher Journalistenkollegen und -kolleginnen mit dem Kanzler war. Da schienen die Grenzen zwischen Medien und Presseteam zu verschwimmen. Dennoch: Dieses Phänomen war die Ausnahme, nicht die Regel.

Echte Vertraulichkeiten wurden bei diesen Anlässen keine besprochen, dazu war die Runde zu groß. Bei einer dieser Runden zog Kurz über die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft her und unterstellte ihr Parteilichkeit. Das wurde mit ihm an Ort und Stelle sehr kontroversiell diskutiert – aber nicht publiziert. Das übernahm etwas später der Falter, der zwar eingeladen war, an dem Termin aber nicht teilnahm. Im Nachhinein gesehen ein Fehler aller Beteiligten. Dieses "Hintergrundwissen" hat im Halbdunkel des Kanzlerumfelds nichts verloren, es gehört an die Öffentlichkeit. Da droht die Vertraulichkeit zur Kumpanei zu geraten.

Im Ton vergriffen

Eine gewisse Distanzlosigkeit führte auch dazu, dass Kurz zu jeder Tages- und Nachtzeit anrief, auch am Wochenende. Und beim Kanzler hebt man ab. Auseinandersetzungen wurden emotionaler ausgetragen, als man das sonst an der Schnittstelle zwischen Medien und Politik gewohnt ist. Gerade auch von seinem Team: Mancher vergriff sich ordentlich im Ton. Kolleginnen und Kollegen wurden herabgewürdigt. Mit Kurz gab es trotz heftig ausgetragener Meinungsunterschiede immerhin eine Gesprächsgrundlage. Das gilt nicht für alle Personen in seinem Umfeld. Mit Mitarbeitern, deren Job die Kommunikation war, war diese nicht mehr möglich. Da gab es nachhaltige Brüche. Das Gegenteil von Verhaberung.

Es ist nicht mehr als ein Missverständnis, dass Journalistinnen und Journalisten Freunde oder Feinde sind. Es sind Chronisten, die Politik darstellen, erklären und kommentieren – und die auch Haltung haben und zeigen dürfen. Das haben Kurz und sein Team oft nicht nachvollziehen können. Auch weil es nicht in ihre Strategie gepasst hat. Damit sind sie in ihrer Branche allerdings keineswegs allein. (Michael Völker, 12.11.2022)