Flüchtlingsandrang 2015 an der Grenze in Spielfeld: Der anfänglichen Solidarität folgte ein politischer Rechtsruck.
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Der Wind scheint sich zu drehen. Dominierten in der jüngeren Vergangenheit Klimaschutz, Corona und Teuerung die politische Diskussion, so schleicht sich nun wieder ein altes, leidiges Thema ein. Erst rüttelten die Krawalle von Zuwandererkids in Linz die Nation auf. Nun macht der Streit über fehlende Quartiere für Asylwerber Schlagzeilen.

Für Mitte-links-Parteien ist das eine schlechte Nachricht. Stellt sich die "Ausländerfrage", darf die rechte Konkurrenz mit Auftrieb rechnen. Vor einer Ampelkoalition aus SPÖ, Grünen und Neos könnte sich bei der nächsten Nationalratswahl eine schwer zu nehmende Hürde auftürmen.

Das liegt ein Stück weit in der Natur der Sache. Jenen Kräften, die als Reaktion auf die unübersichtliche und krisenhafte Gegenwart den Rückzug ins heimatliche Idyll propagieren, kommt jede angebliche Bedrohung von Außen gerade recht. Doch wer sich allein auf einen vermeintlichen Automatismus ausredet, spart das eigene Scheitern aus: Ihre mangelnde Glaubwürdigkeit in der Integrationsdebatte – das gilt für Parteiaktivisten, NGO-Vertreter und Journalisten gleichermaßen – hat die Linke auch sich selbst zuzuschreiben.

Im Widerstand gegen Haider

Rückblende in die Neunzigerjahre, als FPÖ-Chef Jörg Haider die Anti-Ausländer-Politik zum Vehikel seines Siegeszuges machte. Viele idealistische Menschen, denen Rassismus, nationaler Dünkel und Verschwörungstheorien ein Gräuel sind, investierten reichlich Energie in die Mission, sich gegen die blaue Erzählung zu stemmen. Das war auch notwendig, um das politische Klima vor der Vergiftung zu schützen. Nicht auszudenken, wo der gesellschaftliche Diskurs gelandet wäre, hätte es dieses Gegengewicht nicht gegeben.

Doch beim Widerstand gegen den Vormarsch der Rechten blieb etwas auf der Strecke: die tiefgreifende Auseinandersetzung mit jenen real existierenden Integrationsproblemen, die Humus für das Gedeihen der auf Übertreibung und Desinformation aufbauenden FPÖ-Propaganda waren.

Dieser Befund ist nicht verallgemeinerbar. Gewiss gibt es Beispiele, die das Gegenteil belegen. Gerade die SPÖ ist als größte zumindest teilweise linke Partei ein inhomogener Haufen, der auch Rechtsausleger beherbergt – und in den Medien und NGOs lassen sich ebenso wenig alle Akteure über einen Kamm scheren. Aber aus einer selbstkritischen Reflexion eines Journalisten, der Jahrzehnte Beobachter und Beteiligter der Debatte war, ergibt sich ein doch etwas bitterer Eindruck: Aus dem Reflex heraus, Haider nur ja nicht recht zu geben, wurde zu lange zu viel ausgeblendet, was schiefgelaufen ist. In der Polarisierung blieb der Mittelweg zu oft verwaist.

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Taktgeber Haider: Empörung über blaue Parolen ist noch kein Konzept.
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Zu recht hagelte es Kritik, als die FPÖ mit rechtsextremen Kampfbegriffen wie "Überfremdung" oder "Umvolkung" die Stimmung aufheizte. Doch Empörung allein ist kein politisches Konzept, das auch jene mitnimmt, die sich in ihren (großstädtischen) Lebenswelten subjektiv tatsächlich in die Rolle einer Minderheit gedrängt fühlen. Zu wenig Augenmerk genossen jene Gründe, warum die freiheitlichen Parolen in vielen Augen plausibel erschienen. Zuwanderungswellen wurden in ihrer Massivität unterschätzt, die Durchmischung blieb mangelhaft: Längst gibt es zumindest in Wien Viertel, wo Zuwanderer spielend ohne ein Wort Deutsch durchs Leben kommen. Nicht alle bieten das Boboflair des hippen Brunnenmarkts.

Die Folgen erschöpfen sich bedauerlicherweise nicht allein in multikultureller Bereicherung. Dass jedes siebte Kind in den Volksschulen der Bundeshauptstadt unzureichend Deutsch beherrscht, obwohl 60 Prozent der Betroffenen in Österreich geboren sind, lässt sich nicht nur, aber auch mit den abgeschlossenen Gesellschaften in den Enklaven erklären. Der Rückstand setzt sich im Erwachsenenalter in den Einkommens-, Arbeitslosen- und Armutsstatistiken fort.

Einseitige Erzählungen

Kamen und kommen derartige Probleme zur Sprache, ertönt von linker Seite oft eine eher einseitige Antwort. Was da unter dem Schlagwort Integration verhandelt werde, sei im Kern ein rein soziales Phänomen, so eine gängige Argumentation. Das von den Konservativen in der ÖVP halsstarrig verteidigte Schulsystem, das frühe Selektion verordne und die Unterstützung der Eltern voraussetze, biete Kindern aus bildungsfernen Familien eben kaum Aufstiegschancen. Spielt die "Ausländerfrage" in dieser Erzählung eine Rolle, dann deshalb, weil Diskriminierung und Alltagsrassismus Migrantinnen und Migranten ins Abseits drängten.

Das ist alles richtig – aber nicht die vollständige Zustandsbeschreibung. Zu lange blieb vernachlässigt, dass auch kulturelle Hemmnisse die Integration behindern. Traditionelle Rollenbilder in den Familien hindern vor allem Töchter daran, Bildungskarrieren einzuschlagen. In konservativer oder radikaler Auslegung bringt der Islam muslimische Bürger in Opposition zum westlichen Lebensmodell – wobei im Fall der türkischstämmigen Bürger Einfluss aus dem Mutterland eine unheilvolle Rolle spielt. Lange brauchten diese Erkenntnisse zum Sickern. Groß war die Vorsicht, nur ja nicht ins xenophobe Fahrwasser der FPÖ zu geraten.

Thema möglichst totschweigen

Für die Gegenwart gilt dieser Befund nur mehr bedingt. In den von einer gesellschaftspolitisch liberalen Haltung geprägten Medien hat sich, wie nicht zuletzt im STANDARD nachzulesen ist, längst ein breiterer Blick durchgesetzt. Stärker ringen hingegen die Parteien mit dem Thema. Besonders schwierig ist dieses Feld für die SPÖ, die als Volkspartei sowohl weit links als auch ein Stück rechts der Mitte um Wähler buhlt. Es soll nicht behauptet werden, dass die Sozialdemokraten dort, wo sie – wie in Wien – regieren, in Integrationsfragen untätig seien. Aus der Debatte aber versuchen sie, sich tunlichst herauszuhalten, frei nach dem Motto: Da gibt’s eh nichts für uns zu gewinnen.

Bezeichnend war der Umgang mit der Halloween-Randale von Linz. Während die FPÖ das Publikum eifrig mit Interpretationen versorgte, fiel der Bundes-SPÖ nicht viel mehr als ein dürres Bekenntnis zu "null Toleranz bei Gewalt" ein. Das kann’s ja nicht sein: Eine traditionell staatstragende Bewegung mit emanzipatorischem Anspruch muss zu einem Ereignis mit mutmaßlich vielschichtigen Gründen mehr anbieten können als ein paar Stehsätze, die andere Parteien wortgleich liefern.

Offen muss auch die Asyldebatte geführt werden. Wer, wie es etwa grüne Politikerinnen und Politiker tun, im Geist der Solidarität auf die Aufnahme von mehr Flüchtlingen drängt, darf sich nicht auf die Beschwörung von moralischen und rechtlichen Verpflichtungen beschränken. Mitzuliefern sind Erklärungen, wie die Neuankömmlinge später am Arbeitsmarkt und im Bildungssystem integriert werden sollen – schließlich ist schon jetzt manche Schule diesbezüglich am Anschlag. Eine ehrliche Debatte darf sich über diese Aspekte nicht hinwegturnen.

Schonungslose Debatte

Das ist kein Aufruf dazu, Rechtspopulisten nach dem Mund zu reden. Beim Integrationsthema geht es der FPÖ nicht um eine Lösung, sondern ums ständige Aufkochen. Doch das entledigt ihre Gegner nicht der Verantwortung, sich ernsthaft mit den aufgeworfenen Fragen auseinanderzusetzen.

Es ist eine alles andere als triviale Angelegenheit, brauchbare Gegenkonzepte zu entwickeln. Doch wie auch immer die Antworten aussehen: Voraussetzung ist eine schonungslose Bestandsaufnahme. Verdrängen linke und liberale Kräfte unliebsame Diskussionen und schieben existente Problem beiseite, werden sie niemals Glaubwürdigkeit zurückerobern – sondern vielfach als ignorant gelten. (Gerald John, 13.11.2022)