Bewohnerinnen und Bewohner von Cherson feierten am Wochenende den Abzug der russischen Besatzer.

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Mychajlo Podoljak berät den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

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Er gilt als der Mann hinter dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Als Bürochef des Leiters der Präsidialadministration Andrij Jermak ist Mychajlo Podoljak auch politischer Chefstratege der Regierung in Kiew. Nach dem Rückzug der russischen Streitkräfte aus Cherson plädiert er dafür, mit der Gegenoffensive gegen den Aggressor entschieden fortzufahren.

STANDARD: Die Offensive auf Cherson ist vollendet, die Stadt ist wieder unter ukrainischer Kontrolle. War das ein militärischer Sieg, das Ergebnis einer Vereinbarung oder vielleicht beides?

Podoljak: Das war auf jeden Fall ein militärischer Sieg. Etwa 50 Städte und Dörfer wurden befreit. Die Russen haben verstanden, dass sie diese Region nicht halten können, dass sie keinen Nachschub haben.

STANDARD: Präsident Wolodymyr Selenskyj hat von einem "historischen Tag" gesprochen. Für manche Kommentatoren war es die letzte Schlacht vor der Winterpause. Andere orten in der Rückeroberung der einzigen Großstadt, die Russland erobert hat, einen Wendepunkt. Was bedeutet die Rückeroberung Chersons für Sie?

Podoljak: Die Ukraine hat absolut keinen Grund und keine Möglichkeit, diese Offensive zu beenden. Wenn die Ukraine damit aufhört, wird Russland die Zeit nutzen, um Truppen zu trainieren, diese Truppen in die Ukraine zu schicken und seine Positionen zu stärken. Zweitens: Die Ukraine muss in alle Richtungen vorstoßen. Auch in Saporischschja und Luhansk herrscht Krieg. Wir müssen an allen Fronten weiterkämpfen. Drittens: Russland befindet sich in einem sehr demoralisierten Zustand. Nachdem Cherson in die Ukraine zurückgekehrt ist, sind die Russen deprimiert. Und der vierte Punkt: Wenn die ukrainische Offensive ins Stocken gerät oder sich verlangsamt, könnten die westlichen Partner kriegsmüde werden und auf Verhandlungen drängen. Russland will keine Verhandlungen, solange es nicht militärisch völlig unterlegen ist. Deshalb geht die Deokkupation weiter.

STANDARD: Es gibt frische Signale. Das Außenministerium in Moskau hat zum Beispiel bekundet, gesprächsbereit zu sein; auch die Türkei will sich wieder für eine diplomatische Lösung einsetzen. Aber existiert überhaupt eine Schnittmenge an Interessen?

Podoljak: Es gibt hier keinen Konflikt zu lösen, sondern eine Invasion und die Annexion von Gebieten zu beenden. Was Russland vorschlägt, ist ein Ultimatum. Was sie wollen, ist ein Waffenstillstand – aber was sie währenddessen tun, ist, sich auf dem Gebiet niederzulassen, das sie eingenommen haben. Alle russischen Offiziellen, einschließlich des Außenministers, sprechen nicht von Verhandlungen, sondern von einer operativen Pause, um sich neu zu formieren und umzustrukturieren. Selenskyj hat sehr deutlich gesagt, was Verhandlungen für uns bedeuten: Russland zieht sein gesamtes Militär aus der Ukraine ab, auch von der Krim. Dann können wir anfangen, darüber zu diskutieren, was wir denken, was sie denken und wie viel sie als Entschädigung zu zahlen haben. Dann können wir über einen Frieden nach dem Krieg sprechen.

STANDARD: Es gab interessante Vorschläge vonseiten Selenskyjs: etwa die Stationierung von UN-Truppen an der Grenze zu Belarus. Sonst hört man aber sehr wenig von der Einbeziehung internationaler Organisationen. Sind die gelähmt?

Podoljak: Die Verwirklichung einer internationalen Mission setzt voraus, dass sich Russland an das Völkerrecht hält – und das tut es nicht. Um UN-Truppen in ein Gebiet zu bringen, müssen beide Parteien zustimmen, und Russland wird dem niemals zustimmen. Vor allem auch: Warum sollte die Ukraine einem anderen Format zustimmen als der Räumung okkupierter Gebiete durch die Streitkräfte der Ukraine? Ein weiterer Punkt: Russland beeinflusst viele internationale Organisationen, und das kann es unmöglich machen, diese Organisationen für eine Lösung zu nutzen.

STANDARD: Andererseits kann Russland, ohne viel kämpfen zu müssen, die Energieinfrastruktur der Ukraine lahmlegen, sich zurücklehnen und auf den Winter warten.

Podoljak: Das ist natürlich gefährlich. Hier wird ein genozidaler Krieg gegen alle internationalen Regeln geführt. Die Russen machen das ganz bewusst. Sie sagen es auch ganz offen. Auch die internationalen Partner wissen das. Sie haben deshalb die Lieferung von Luftabwehrsystemen beschleunigt. Transformatoren, Generatoren und Ersatzteile werden ebenfalls geliefert.

STANDARD: Teil der Behördenarbeit ist leider die Ausforschung von Massengräbern und die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen. Sind die ukrainischen Behörden der Masse an solchen Ermittlungen gewachsen?

Podoljak: Wir haben einen operativen Stab in der Generalstaatsanwaltschaft, und es gibt eine Gruppe, die Dokumente für ein internationales Gericht vorbereitet. Internationale Partner helfen bei der Arbeit am Sondertribunal: Frankreich, Polen, Italien, die baltischen Staaten – aber nicht Österreich. Sie helfen bei allen Aspekten der Ermittlungen und dokumentieren, wenn zum Beispiel Gräber geöffnet werden.

STANDARD: Österreich bezieht sich im Umgang mit diesem Krieg gerne auf die eigene Neutralität. Kann man angesichts eines solchen Krieges denn neutral sein?

Podoljak: Das ist keine Frage der Neutralität. Es geht darum, ob man einfach dabei zusehen möchte, wie ein Land ein anderes überfällt, wie Menschen getötet werden, wie das Recht der Menschen, in ihrem eigenen Land in Frieden zu leben, verletzt wird. Wenn das manche Leute in Österreich nicht verstehen, dann sollte man ihnen vielleicht erklären: Russland ist in die Ukraine eingefallen, Russland tötet Menschen, Russland schickt Drohnen und Raketen. Das ist kein Konflikt. Von Neutralität wird später einmal niemand sprechen, sondern nur davon, dass man sich damals dazu entschieden hat, danebenzustehen und dabei zuzusehen, wie ein Land ein anderes Land überfällt. Und das ist die Entscheidung, die Österreich getroffen hat. (Stefan Schocher, 14.11.2022)

"Alles soll planmäßig und militärisch sinnvoll wirken" – Wieso habe sich die russischen Truppen aus Cherson zurückgezogen? Es antwortet Brigadier Philipp Eder
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