In der befreiten Stadt Cherson schreibt ein Soldat eine Botschaft auf die ukrainische Flagge eines Mädchens.

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Riesige Freude über die Befreiung, aber auch Sorge wegen der weitgehend zerstörten Infrastruktur und der allgegenwärtigen Gefahr durch zurückgelassene Minen: Beides lag am Wochenende für die Menschen im südukrainischen Cherson nah beieinander.

Erst am Freitag waren ukrainische Truppen im Zuge ihrer Gegenoffensive unter dem Jubel der Bewohnerinnen und Bewohner ins Zentrum der Gebietshauptstadt Cherson vorgedrungen. Zuvor hatten sich die russischen Besatzer auf die östliche Seite des Flusses Dnjepr zurückgezogen. Bereits als die Ukrainer vom Westen vorrückten, säumten in den kleineren Gemeinden zahlreiche Menschen ihren Weg, schwenkten blau-gelbe Fahnen und begrüßten ihre Soldaten mit Blumen und Umarmungen.

Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem "historischen Tag", warnte jedoch gleichzeitig vor der schwierigen humanitären Lage in dem befreiten Gebiet: Die Besetzer hätten vor ihrem Abzug die kritische Infrastruktur vor Ort weitgehend zerstört, darunter Verkehrswege sowie Einrichtungen zur Wasser- und Stromversorgung, sagte Selenskyj in einer seiner regelmäßigen Videoansprachen.

"Kritische Mangellage"

Während viele Menschen in Cherson noch die Befreiung feierten, sprach auch Bürgermeister Roman Holownia im Fernsehen von einer "kritischen Mangellage": Gegenwärtig gebe es nicht genügend Arzneimittel, auch Brot könne ohne die entsprechende Energieversorgung kaum gebacken werden.

Zudem warnten die Behörden vor den Minen und Sprengfallen, die russische Soldaten zurückgelassen hätten, und verhängten am Sonntag eine Ausgangssperre von 17.00 Uhr bis 8.00 Uhr sowie ein Verbot, die Stadt zu betreten oder zu verlassen. Dabei handle es sich um eine Sicherheitsmaßnahme, hieß es.

Inzwischen haben ukrainische Kräfte vor Ort mit der Minenräumung und mit der Reparatur von Leitungen und Wasserrohren begonnen. Man versuche, die Stadt innerhalb einiger weniger Tage wieder zu öffnen. Geht es nach dem Chef der ukrainischen Staatsbahnen, dann soll sogar der Zugverkehr nach Cherson noch diese Woche wieder aufgenommen werden.

"Hölle" im Gebiet Donezk

Für Russland stellte der Rückzug aus Cherson, der einzigen Gebietshauptstadt, die die Angreifer seit Kriegsbeginn im Februar hatten einnehmen können, eine empfindliche militärische Niederlage dar – begleitet von einem beträchtlichen Imageverlust für die Armee. Das Verteidigungsministerium in Moskau kann also gerade in diesen Tagen Erfolgsmeldungen aus anderen Regionen der Ukraine gut gebrauchen. Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow berichtete am Sonntag von einem kleineren Erfolg im ostukrainischen Gebiet Donezk. Russische Soldaten hätten dort einen Ort nahe der Stadt Horliwka erobert.

Von ukrainischer Seite gab es dazu vorerst keine Bestätigung. Allerdings hatte Selenskyj zuvor von derzeit besonders heftigen russischen Angriffen in der Region Donezk gesprochen. "Es ist die Hölle dort", sagte der Präsident am Samstagabend – wohl auch in der Hoffnung, dass der Erfolg in Cherson den Verteidigern in Donezk Mut machen könnte. (Gerald Schubert, 13.11.2022)