Dmitri Prigow, Moskauer Rezitator und Nonkonformist: Dieser Dichter trieb zeitlebens Ideologiekritik.

Foto: imago / Sargienko

Die erste Gestalt, die das Kind im fernen China bewusst wahrnimmt, ist ausgerechnet ein Aggressor: ein japanischer Wachsoldat. "Bolzengerade, klar umrissen" steht dieser Unhold – "ein richtiger Winzling" – unbeweglich vor dem russischen Mädchen. Das Kind ist gerade einmal vier oder fünf. Der Kalender zeigt 1944 oder 1945 an. Die Heldin von Dmitri Prigows Meistererzählung Katja chinesisch ist das couragierteste Mädchen der Welt. Mit ihren Eltern, geflohenen "Weißen", hat sie im chinesischen Tientsin Zuflucht gefunden.

Als Gefährtin hat sie ein waschechtes Kindermädchen. Ihre treuesten Spielkameraden sind jedoch Chinas millionenfache Geister: die Seelen Verstorbener, Verderber, die rituell besänftigt sein wollen. Ungeister vertrieben hat der Moskauer Dichter und Konzeptkünstler Dmitri Prigow (1940–2007) sein ganzes couragiertes Leben lang. Bereits in den 1970ern machte dieser Nonkonformist seine Kleinwohnung in Beljajewo, einer Bettenburg am Rande der sowjetischen Hauptstadt, zum konspirativen Versammlungsort. Sich selbst ernannte er dabei frank und frei zum "Dichter des gesunden Menschenverstandes".

Prigow lud jedermann, der bereit war, ihm zuzuhören, zu sich ein. Als Rezitator, als Hersteller penibel geklebter Zeitungscollagen, schleuste er die Bestandteile der Sowjetideologie durch den Filter seiner Sprache. Prigow erfand die Figur des "Milizionärs". Dieses nimmermüde Wachorgan der sozialistischen Errungenschaften wurde zum Helden zahlreicher Heldenpoeme. Wer gab in der Agonie der späten Sowjetgesellschaft ein weithin leuchtendes Vorbild ab? "Nur du, o Milizionär / Du Pfeiler und Symbol des Staates…"

Boden der Kindheit

Die Wurzeln von Dmitri Prigows Konzeptkunst stecken tief im Boden der Kindheit. Nie wird man in den Texten dieses Phrasenjägers und Sammlers ein böses Wort finden – trotz Diktatur und materiellen Elends. Auch die Erzählung Katja chinesisch gleitet, angetrieben vom kindlichen Eigensinn der Hauptfigur, über ein Scherbenfeld. Die russischen Emigranten in Fernost betreiben in ihrer chinesischen Enklave Realitätsverweigerung. Im Übrigen frönen sie einem bourgeoisen Lebensstil, ganz so, als ob es die Oktoberrevolution niemals gegeben hätte.

Spätestens mit der Ausrufung der Volksrepublik China 1949 ändert sich die Situation schlagartig. Das Volk schlägt auf die Töpfe, um die Spatzen und Sperlinge – lauter bourgeoise Ernteschädlinge – so lange von den Bäumen zu scheuchen, bis sie tot herunterfallen. Das inzwischen gereifte "Mädchen" fährt auf eigene Faust heim in die Sowjetunion. Die Zugfahrt nach Usbekistan, eine Zeitreise zu Verwandten, gehört zu den zauberhaftesten Schilderungen eines Riesenreichs, dessen Vielfalt allen monolithischen Zuschreibungen spottet.

Dmitri Prigow gehört auch 15 Jahre nach seinem Tod zu den unverzichtbaren Stimmen einer anti-imperialistischen Erzählung. Sein nachgelassenes Buch bildet ein wohltuendes Elixier gegen Russlands Mangelerscheinungen. Zu diesen zählen fortgeschrittener Putinismus, die Ausübung blinder militärischer Gewalt, die Ausbildung national-ideologischen Größenwahns.

Prigows Stimme hingegen tönt federleicht, sie ist sanftmütig und achtsam. Als Ausgangspunkt seiner Erzählung diente ihm wohl die Kindheit seiner eigenen Frau, die in der Tat, als Tochter einer englischen Mutter und eines russischen Vaters, in Tientsin aufwuchs. Prigow war sein Lebtag lang nicht in China. Aber als Autor von absurden Alfabeten und Formulartexten kostümierte er sich wahlweise als Christus, Napoleon, Hitlers Braut (!) oder als Putzfrau.

Gute Katzengeister

Prigow verschmolz jedes Mal mit den Masken, die er sich vor das starre Sowjetgesicht hielt. Als altkluge russische Brillenschlange, die Chinas Katzengeister auf Trab hält, macht er gerade jetzt gute Figur: In Christiane Körners famosem Übersetzerdeutsch exzelliert der Autor als "unzuverlässiger Erzähler". Und legt erquickendes Zeugnis ab von einem Russland, das tief in den asiatischen Raum hinüberreicht – und allen friedlichen Menschen guten Willens gehört. (Ronald Pohl, 15.11.2022)