Etwas von dem, was Sahel S. Ende September vor Gericht im Fall Leonie W. erzählt hatte, lässt sich wohl als Angeberei verbuchen. In nur einer Nacht will der junge Afghane einmal 15 Ecstasy-Tabletten eingeworfen haben. "Das war kein Problem", sagte er. Das habe "normal" gewirkt.

Aber er zog auch beweisrelevante Aussagen gegen einen Beschuldigten aus einer früheren Polizeieinvernahme zurück. Wieder ging es um Drogen. Er wollte das alles plötzlich nicht mehr gesagt haben. Er sei da "berauscht" gewesen, habe davor eine Menge Kokain und Crystal Meth konsumiert und außerdem schlecht geschlafen. Und genau um diese Aussagen sollte sich der sechste Prozesstag drehen.

Denn Sahel S. ist ein relevanter Zeuge. Der wegen Drogenverkaufs Inhaftierte ist ein Freund von "Zubai" (24), "Haji" (19) und "Ramesh" (20). Den drei Afghanen wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, die 13-jährige Leonie W. im Juni 2021 in der Wohnung eines Beschuldigten unter Drogen gesetzt und vergewaltigt zu haben – mit Todesfolge.

Vor der mutmaßlichen Tat übergab Sahel S. "Zubai" nicht nur 200 Ecstasy-Tabletten. Er war es auch, den "Zubai" in jener Nacht angerufen haben soll, als es dem Mädchen immer schlechter ging. Er soll Zitronensaft empfohlen haben. Es sei in dem nächtlichen Telefongespräch laut Sahel S. aber nie um sechs Ecstasy-Tabletten gegangen, die "Zubai" dem Mädchen gegeben habe. Auch über "schlechte Tabletten" sei nicht gesprochen worden. Das Protokoll hatte der junge Mann allerdings unterschrieben.

Mit einem Urteil im "Leonie-Prozess" wird am 2. Dezember gerechnet.
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Nun sollten die zuständigen vier Beamten und die Dolmetscherin aufklären, wie die Befragung damals verlaufen ist. Aus Sicht der Exekutive machte Sahel S., der da noch als Beschuldigter in dem Fall galt, allerdings keinen berauschten Eindruck.

Es sei eine normale Vernehmung gewesen, sagte ein Ermittler des Landeskriminalamts aus. Sahel S. sei am Tag davor festgenommen worden, habe in seiner Zelle geschlafen und auch etwas zu essen bekommen. Der junge Afghane habe bei der Befragung relativ entspannt gewirkt, erzählte der Polizist, der damals auch das Gefühl hatte, dass der junge Mann mit der Tat nichts zu tun hatte.

Nur die Dolmetscherin berichtete von "sehr weit aufgerissenen Augen" des Einvernommenen, der versucht habe, sich zu konzentrieren. Grundsätzlich hieß es, dass die Befragung teils auf Deutsch, teils via Dolmetscher geführt wurde. Am Ende seien die Angaben von Sahel S. vorschriftsgemäß rückübersetzt worden, eh er das Protokoll unterschrieben habe.

1.500 Euro für zwei Verhaftungstipps

Bemerkenswerter waren die Aussagen mancher Beamter, die einen anderen Zeugen betreffen. Dieser bekam als sogenannter Gelegenheitsinformant 1.500 Euro von der Polizei für Informationen, die in der Causa zu zwei Verhaftungen geführt hatten. Unter anderem habe er den Standort von "Zubai" geliefert, der zwischenzeitlich nach London geflüchtet war. Für diese "Mühe und Hilfe" gebe es bei der Polizei ein "gewisses Budget". Dieses "Zundgeld" sei so üblich, hieß es.

Der Zeuge dürfte es damit aber übertrieben und weiter Geld verlangt haben. "Er hat geglaubt, er ist der Hilfssheriff", sagte ein Polizeibeamter aus. Er soll auch den Medien angebliche Insiderinformationen verkauft haben. Doch nicht alles davon stimmte, wie sich im Lauf des Prozesses herausgestellt hat.

Etwa dass "Hajis" Ex-Freundin gemeinsam mit einem anderen Mann in der Tatnacht ebenfalls in der Wohnung gewesen sei. Entsprechende Spuren konnte die Polizei allerdings nie sicherstellen. "Ich will mit alldem nichts zu tun haben", sagte dann auch die 22-Jährige, als sie mit Baby und Kinderwagen vor Gericht erschien. "Zubai" will sie nur kurz vor der Tatnacht gesehen haben. Ansonsten sei es zu keinerlei Kontakt mehr mit dem Trio gekommen.

In einer Polizeieinvernahme sagte die junge Frau aus, dass es in der Wohnung "schlimmer als in einem Puff" gewesen sei. Vor Gericht konkretisierte sie, dass dort scheinbar "schmutzige, stinkende, teilweise verwahrloste Kinder" ein- und ausgegangen seien. Dass es sich dabei um Drogengeschäfte gehandelt haben könnte, sei nur eine Vermutung gewesen. Vielleicht war es kein schlechter Tipp: "Zubai" und "Haji" sind beide mehrfach wegen Suchtmitteldelikten vorbestraft.

"Zubai" könnte im Fall eines Schuldspruchs zehn Jahre, 20 Jahre oder lebenslang bekommen. Er war zur Zeit der mutmaßlichen Tat älter als 21 Jahre. Bei "Haji" und "Ramesh" geht es um bis zu 20 Jahre. Ein Urteil soll am 2. Dezember erfolgen. (Jan Michael Marchart, 14.11.2022)