Die Dimension des Missbrauchsfalls rund um den Wiener Lehrer, Sporttrainer und Sommercampbetreuer ist groß. Zahlreiche Fragen sind weiterhin offen.

Foto: Regine Hendrich

Im Missbrauchsfall rund um einen Wiener Pädagogen, Vereinssporttrainer und Feriencampbetreuer sind nach wie vor zahlreiche Fragen offen. Wie berichtet, soll der Mittelschullehrer zahlreiche Schüler missbraucht sowie kinderpornografisches Material angefertigt haben. Zumindest 25 Opfer konnten laut den Ermittlungen der Polizei auf Fotos und Videos identifiziert werden, erste Missbrauchshandlungen soll es bereits ab dem Jahr 2004 gegeben haben.

Mehrere Datenträger waren im Frühjahr 2019 im Rahmen einer Hausdurchsuchung nach einer Missbrauchsanzeige sichergestellt worden. Der Betroffene beging kurz vor seiner geplanten Einvernahme im Mai 2019 Suizid. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen sowie Herstellung und Besitzes von kinderpornografischem Material wurden in weiterer Folge eingestellt.

Gegen den Pädagogen wurde aber bereits im Jahr 2013 eine erste Anzeige wegen eines sexuellen Übergriffs an einem Jugendlichen eingereicht – also sechs Jahre vor Bekanntwerden der Missbrauchscausa. Konkret soll sich der Übergriff in einem Feriencamp im Salzkammergut zugetragen haben. Denn der Pädagoge war in den Sommermonaten von 1990 bis 2010 auch als Campbetreuer tätig. Der Übergriff soll sich im Jahr 2006 ereignet haben, der Betroffene war damals 13 Jahre alt. Angezeigt wurde der Vorfall erst sieben Jahre später: Als jungem Erwachsenen sei ihm im Rahmen einer Therapiesitzung bewusst geworden, dass es hier einen Übergriff gegeben habe, sagte er dem STANDARD.

Anzeige dürfte versandet sein

Ein Sprecher der Landespolizeidirektion Niederösterreich bestätigte bereits Ende September dieses Jahres, dass es im Jahr 2013 auch eine Beschuldigteneinvernahme gegeben habe. Durchgeführt worden sei sie in Niederösterreich. Auch die Anzeige sei in diesem Bundesland eingereicht worden, weil das Opfer hier wohnhaft ist.

Bei der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt ist aber keine Anzeige gegen den Betroffenen aus dem Jahr 2013 bekannt. Auch bei den Staatsanwaltschaften Wien sowie Wels und Salzburg – wegen des Orts des mutmaßlichen Übergriffs – schienen keine Einträge auf, wurde auf Nachfrage mitgeteilt. Aus dem Justizministerium hieß es: "Es gibt aus dem Jahr 2013 kein diesbezügliches Ermittlungsverfahren." Die Anzeige dürfte also versandet sein.

Akten möglicherweise vernichtet oder gelöscht

Wo aber ist diese Anzeige – samt folgender Beschuldigteneinvernahme – geblieben? Eine Aufklärung hat bis heute nicht stattgefunden. "Seitens der Landespolizeidirektion Niederösterreich wurden alle Möglichkeiten ausgeschöpft und nochmals intensiv recherchiert", sagte Sprecher Raimund Schwaigerlehner dem STANDARD. Im Aktensystem scheine "kein Akt zu dieser Causa" auf. Daher gehe die Landespolizei davon aus, dass es sich um ein Ersuchen einer anderen Dienststelle gehandelt hat. "Aufgrund datenschutzrechtlicher Bestimmungen werden solche Ersuchen fünf Jahre nach Erledigung skartiert – das heißt, die Akten werden vernichtet beziehungsweise automatisch aus dem System gelöscht."

Neue Anzeige wegen Verdachts auf Missbrauch der Amtsgewalt

Diese Antwort dürfte dem mutmaßlichen Opfer nicht ausreichen. Laut STANDARD-Informationen wurde wegen der versandeten Anzeige am Montag von Opferanwältin Herta Bauer eine neue Sachverhaltsdarstellung bei der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt eingebracht – wegen des Verdachts des Missbrauchs der Amtsgewalt gegen unbekannt. Es sei demnach "beweisbar durch Zeugenaussagen", dass im Jahr 2013 eine Anzeige gegen den Wiener Pädagogen wegen sexuellen Missbrauchs erstattet wurde.

Bei der Straftat des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen handle es sich laut der Anzeige um ein Offizialdelikt, "welches im Moment der Kenntnisnahme durch eine Strafverfolgungsbehörde Ermittlungsmaßnahmen auslösen muss". Bei diesem Fall liege daher ein "strafrechtswürdiges Behördenversagen" vor.

Bericht der Kommission soll Ende November vorliegen

Mit dem Missbrauchskomplex beschäftigt sich weiterhin eine Untersuchungskommission, die im Jahr 2021 von der Bildungsdirektion Wien und der Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) eingerichtet wurde. Ende November soll ein Bericht veröffentlicht werden, sagte Wiens Kinder- und Jugendanwalt Ercan Nik Nafs. (David Krutzler, 16.11.2022)