In der Asylpolitik setzt Großbritannien verstärkt auf Kooperation mit seinem wichtigsten Nachbarn: Frankreich. Am Montag unterzeichnete Innenministerin Suella Braverman in Paris einen neuen Vertrag mit ihrem französischen Kollegen Gérald Darmanin. Gegen eine um 14 Prozent gestiegene Jahreszahlung von 72 Millionen Euro dürfen sich künftig britische Beamte an der Aufsicht über Frankreichs Kanalküste beteiligen. Dort soll die Zahl der Patrouillen um 40 Prozent erhöht werden, zudem werden mit dem britischen Geld Aufklärungsdrohnen gekauft. Mit solchen Maßnahmen will Braverman der "völlig inakzeptablen" Zahl von Migranten beikommen, die in Schlauchbooten über den Ärmelkanal setzen.

Migranten schieben ein Schlepperboot am Strand von Gravelines in der Nähe von Dünkirchen ins Wasser.
Foto: AFP/SAMEER AL-DOUMY

Weil andere Routen weitgehend "verstopft" sind, setzen die international tätigen Schlepperbanden verstärkt auf die gefährliche Reise mitten durch eine der am meisten befahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt. Gerade 297 Seeflüchtlinge wurden 2018 registriert; 2021 kamen 28.256 Asylsuchende, in diesem Jahr liegt die Zahl bisher bei mehr als 40.000. An klaren Tagen mit ruhiger See schaffen viele Hundert Menschen das waghalsige Vorhaben, allein am vergangenen Sonntag brachten 22 Boote 972 Migranten. Die Überfahrt kostet zwischen 3.000 und 7.000 Euro pro Person; immer wieder kommt es zu Todesfällen.

Vertrag war offenbar schon länger fertig

Der jetzt unterzeichnete Vertrag befand sich schon seit längerem in Arbeit; offenbar zögerte Paris wegen der politischen Turbulenzen in der konservativen Regierungspartei Großbritanniens. Die früheren Premiers Boris Johnson und Liz Truss hatten immer wieder durch unvorsichtige Bemerkungen von sich reden gemacht. Truss mochte im Sommer sogar die Frage nicht eindeutig beantworten, ob es sich bei Emmanuel Macron um "Freund oder Feind" handle.

Hingegen setzt der neue britische Premier Rishi Sunak, 42, auf ein betont herzliches Verhältnis zum beinahe gleichalten Staatspräsidenten, 44. Freilich ist in der Migrationspolitik ein kooperatives Verhältnis zu den Nachbarn eine wichtige Voraussetzung, aber gewiss nicht "der Königsweg" zur Lösung des Problems, wie Braverman in Paris einräumte.

Die Galionsfigur des äußersten rechten Parteiflügels hat durch umstrittene Äußerungen ihre Gesinnungsfreunde entzückt und politische Gegner entsetzt. Auf dem Tory-Parteitag im Oktober sprach sie von ihrem "Traum", einem Flugzeug voller Deportierter Richtung Ruanda nachzuschauen. In das wegen Menschenrechtsverletzungen umstrittene zentralafrikanische Land sollen Regierungsplänen zufolge alleinreisende junge Männer ausgeflogen werden. Dort würden sie Aufnahme und ein Asylverfahren erhalten, eine Rückkehr ins Königreich wäre ausgeschlossen. Britische Gerichte haben dem rechtlich dubiosen Vorhaben einen Riegel vorgeschoben.

Hat Braverman recht?

Politisch gefährlich für Braverman ist ihre Behauptung, die Regierung habe "die Kontrolle über die Grenzen verloren". Genau die vermeintlich notwendige Rückgewinnung der Kontrolle gehörte zu den wichtigsten Begründungen für den Brexit, zu dessen begeisterten Anhängerinnen die Ministerin zählt. Innerhalb oder außerhalb der EU – bis heute weiß im Königreich niemand so genau, wer eigentlich im Land weilt.

Den von der letzten Labour-Regierung geplanten Personalausweis kassierten die Torys 2010 mit der Begründung, ein solches Papier sei mit alten britischen Freiheitsrechten nicht vereinbar. Unter dem Eindruck der scheinbar unlösbaren Einwanderungsfrage hat die Diskussion über einen Ausweis in jüngster Zeit wieder Fahrt aufgenommen. Allein in der Hauptstadt London wird die Zahl der Illegalen auf knapp 400.000 geschätzt.

Auch prominente Linke wie Chris Mullin warnen davor, das Problem auf die leichte Schulter zu nehmen. Schon allein um der echten Flüchtlinge willen könne man nicht zusehen, wie Menschen aus sicheren Drittländern wie Albanien "aus wirtschaftlichen Gründen das Asylrecht missbrauchen", argumentiert der frühere Labour-Abgeordnete. (Sebastian Borger, 14.11.2022)