Im Gastblog erklärt der Anwalt Helmut Graupner anhand konkreter Fälle, dass es heftige Widersprüche zwischen dem Maßnahmenvollzug und den Menschenrechten gibt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verlangt für eine Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher das nachweisliche Vorliegen einer echten geistigen Störung.¹ Dieser Begriff ist eng auszulegen. Nicht jede geistige Störung rechtfertigt eine Einweisung. Sie muss so schwerwiegend sein, dass sie die Behandlung in einer Einrichtung für psychisch kranke Patienten erfordert, wie dies beispielsweise bei schizophrenen Störungen der Fall ist, in der Regel jedoch nicht bei dissozialer Persönlichkeit oder dissozialen Persönlichkeitsstörungen (die auch anerkannte psychische Krankheiten darstellen).²

"Er hat keine Krankheit"

Das Oberlandesgericht Linz hat jedoch vor wenigen Monaten die Einweisung eines bislang unbescholtenen Mannes bestätigt, bei dem nicht nur keine ausreichend schwere psychische Erkrankung vorliegt, sondern – ausdrücklich und unbestritten – gar keine, auch keine Persönlichkeitsstörung (OLG-Linz 21.06.2022, 8 Bs 77/22p). Die renommierte psychiatrische Gerichtssachverständige hat bei dem Mann eine schwere Charakterstörung ("Familientyrann") festgestellt. Sie schreibt von "schwere(r) Störung in seiner Persönlichkeitsstruktur, in seinem Charakter", von einem "Problem in seinem Charakter" sowie vom "nachgeradezu klassischen Typus des Familientyrannen" und betont: "(der Angeklagte) leidet an keiner Krankheit. Er hat keine Störung, er hat keine Krankheit."

Es verletzt die Menschenrechte, wenn eine psychisch gesunde Person in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen wird – genau das ist aber passiert.
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Der Mann mag somit einen schwer kriminellen Charakter (Persönlichkeitsstruktur, "Familientyrann") aufweisen, psychisch krank ist er nicht, schon gar nicht leidet er an einer echten geistigen Störung, die die Behandlung in einer Einrichtung für psychisch kranke Patienten und Patientinnen erfordert.

Einweisung als Menschenrechtsverletzung

Psychisch gesunde Menschen in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen und dort anzuhalten ist mit den Menschenrechten unvereinbar. Einem Großteil der inhaftierten Straftäter kann ein (schwer) krimineller Charakter (Persönlichkeitsstruktur) zugeschrieben werden. Sie alle könnten auf diese Weise, und das ist die Konsequenz der Gerichtsentscheidungen in diesem Fall, potenziell lebenslang in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen werden.

Dies entspricht weder dem Willen des österreichischen Gesetzgebers, der für psychisch gesunde gefährliche Rückfalltäter die Anstalt für gefährliche Rückfalltäter eingerichtet und dafür eine maximale Anhaltedauer von zehn Jahren festgelegt hat (§ 23 StGB), noch der Europäischen Menschenrechtskonvention. "Geisteskrank" (Art. 5 Abs 1 lit. e EMRK³) ist etwas anderes als "im Charakter gestört".

Die österreichischen Gerichte verhängten über den Mann wegen fortgesetzter Gewaltausübung (§ 107b StGB) eine Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Jahren. Eine lebenslange Freiheitsstrafe haben sie nicht ausgesprochen und hätten dies auch nicht tun können. Nicht einmal die mögliche Höchststrafe von 15 Jahren verhängten sie, sondern beurteilten acht Jahre als tat- und schuldangemessen. Die darüber hinaus zusätzlich angeordnete potenziell lebenslange Einweisung des nicht "geisteskranken" (Art. 5 Abs lit. e EMRK) Mannes in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher stellt eine gravierende Menschenrechtsverletzung dar.

Potenziell lebenslang für Verleumdung

Der Fall liegt nun am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Und wenn der Reformentwurf der Justizministerin tatsächlich Gesetz werden sollte, dürften Einweisungen gesunder Menschen nicht mehr erfolgen ("Fokus auf den 'Krankheitsbegriff' und nicht auf allfällige andere Aspekte der Normabweichung", heißt es im Entwurf). Andere Probleme bleiben jedoch.

So wurde 2018 ein Mann ausschließlich aufgrund einer begangenen Verleumdung eingewiesen. Der Oberste Gerichtshof hat diese Einweisung, bloß wegen Verleumdung, bestätigt (OGH 03.08.2018, 14 Os 61/18d). Potenziell lebenslange Einweisungen in Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher sollen nach dem Reformentwurf zwar nur mehr bei Taten möglich sein, auf die mehr als drei Jahre Gefängnis stehen. Verleumdung hat jedoch einen Strafrahmen von bis zu fünf Jahren (§ 297 StGB) und bleibt daher weiterhin einweisungsfähig. Eine Einschränkung der potenziell lebenslangen Einweisungen auf erhebliche Gewalt- und Sexualstraftaten erfolgt nicht.

"Hohe" Rückfallgefahr

Und noch eine Problematik ändert der Entwurf nicht: jene der "hohen" Rückfallgefahr. Im Gesetz soll festgeschrieben werden, dass eine Einweisung eine hohe Gefahr ("Wahrscheinlichkeit") der Begehung von Straftaten mit schweren Folgen voraussetzt. Nur: Das ist ohnehin bereits geltende Rechtsprechung. Die Gerichte bekennen sich bereits jetzt zu diesem menschenrechtlich notwendigen Grundsatz, obwohl er bislang nicht ausdrücklich im Gesetz (§ 21 Strafgesetzbuch StGB) steht. Sie weisen jedoch immer wieder auch bei Wahrscheinlichkeiten von 20, 15, zehn oder auch weniger Prozent künftiger Delinquenz ein (OGH 29.01.2019, 14 Os 113/18a: 15 Prozent "das Wahrscheinlichkeitskalkül des § 21 Abs 2 StGB tragend").

Der krasseste von mir vertretene Fall war ein Mann, der sich selbst freiwillig in ein psychiatrisches Krankenhaus zur stationären Behandlung begeben hat, weil er Aggressionsprobleme an sich erkannte, und der dort, bevor die Therapie Erfolg zeigen konnte, kurz nach der Aufnahme einen Sessel nach einer Pflegekraft geworfen und sie verbal bedroht hatte. Trotz vom beigezogenen psychiatrischen Sachverständigen unstrittig konstatierter Rückfallgefahr von bloß 1,97 bis 5,9 Prozent wurde er in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen und darin hartnäckig jahrelang festgehalten. Nur mit größter Mühe konnte schließlich eine bedingte Entlassung (mit Wohnweisung in einer bestimmten Einrichtung) erreicht werden.

Anhaltungen in Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher erfolgen unbefristet und potenziell lebenslang. Bei jenen, für die diese Anstalten ursprünglich gedacht waren, ist eine solche Anhaltung sinnvoll und notwendig: bei hochgefährlichen Straftätern, die infolge einer schweren psychischen Krankheit erheblich in ihrer Willensbildung oder Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt sind. Menschen jedoch unbefristet wegzusperren, die zu 80, 85, 90 Prozent oder zu einem noch höheren Prozentsatz nicht mehr straffällig werden, ist unverhältnismäßig und menschenrechtswidrig. Erst recht, wenn man weiß, dass von fünf eingewiesenen Personen nur eine einzige tatsächlich gefährlich im Sinne des Gesetzes ist und – auch bei bester (korrektester) Begutachtung – regelmäßig vier von fünf Prognosen hoher Gefährlichkeit für Schwerkriminalität falsch sind, wie es die Arbeitsgruppe des Justizministeriums zur Reform des Maßnahmenvollzugs 2015 festgestellt hat (S. 42f).

1.400 Prozent Steigerung

Wurden vor 35 Jahren noch rund 100 Personen in Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher angehalten, so sind es heute bereits über 1.400. Nur in circa 20 Prozent der Fälle erfolgt die Unterbringung aufgrund von schweren Delikten wie Mord, Raub oder gravierenden Sexualdelikten. Es ist ein Trend zu Einweisungen für Delikte mit geringem Gefährdungspotenzial feststellbar. Sieben Prozent der Untergebrachten befinden sich seit mehr als 20 Jahren im Maßnahmenvollzug, bei weiteren zwölf Prozent dauert die Unterbringung zwischen zehn und zwanzig Jahren. Der Reformentwurf der Justizministerin dürfte daran wenig ändern. (Helmut Graupner, 24.11.2022)