Die Tücken von Schnee und Eis behindern nicht nur die geistige Mobilität eines Riesenlandes: Jänner-Impression aus Nowosibirsk.

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Der grimmigen Kälte ihrer Winter sind die Bewohner der eurasischen Landmasse ausgeliefert. Das durch Mark und Bein gehende Erlebnis extremer Fröste, verbunden mit schier ewiger Finsternis, hat Russinnen und Russen über viele Jahrhunderte Demut gelehrt. Noch der russische Kirchenkalender erzählt vielfach von den Fährnissen des Klimas.

Am 1. Oktober, zu Mariä Empfängnis, bedeckt der "Pokrow der Heiligen Muttergottes" die schwarze Erde mit der ersten Hülle ("Pokrow") schützenden Schnees. Einst baten die Mädchen in heiratsfähigem Alter daraufhin die Gottesmutter: "Verschleiere die Erde mit Schnee und decke mein Haupt mit der Hochzeitskrone!"

Von nun an glühten die Öfchen in den behaglichen Hütten und Katen aus Holz. Häufig genug handelt Russlands Folklore von verstrubbelten Bauern, die die langen Wintermonate ausschließlich auf ihrem Ofen hockend verbringen, die Flasche mit Selbstgebranntem in Griffnähe. Im Nachteil befindet sich, wer nicht genügend Brennmaterial besitzt. Es macht die Perfidie von Wladimir Putins Kampagne gegen Wärmeeinrichtungen aus, über die ukrainischen Nachbarn den Frost als Schicksal verhängen zu wollen: durch das gezielte Bombardement der einschlägigen Infrastruktur.

Die widrige Kälte lehrte die Betroffenen seit jeher, abzuwarten und glühend heißen Tee zu trinken. Etwa bis zum 11. Februar, wenn der Heilige "Wlassig-Wärm-die-Seite" die Fröste zu vertreiben beginnt. Die fromme Figur wird so genannt, weil zu besagtem Termin die Kuh von den Bauern seitlich zur Sonne auf die Weide gestellt wird. Vollends zur "Heiligen Jewdokija" (1. März) erfreut sich das Volk seiner "Plätterin": Jewdokija presst den schmelzenden Schnee zu Klumpen zusammen. Doch es wäre grundverkehrt anzunehmen, die Bewohnerinnen von Steppe und Tundra würden ihrem Winter lediglich skeptisch oder unterwürfig begegnen.

Verlässlicher Genosse

Häufig genug in Russlands Geschichte erwiesen sich Winterfrost und Eiseskälte als verlässliche Bundesgenossen im Kampf gegen Feinde und Invasoren. Unglaubliche 600.000 Mann zählte Napoleons "Grande Armée", als sie 1812 bis nach Moskau marschierte. Die Russen wichen der Stoßkraft des Feindes geschickt aus – und setzten ihre "alte" Hauptstadt auch noch eigenhändig in Brand. Zar Alexander I. vermied es peinlich, mit dem Usurpator Bonaparte in Verhandlungen zu treten. Prompt trotteten die verdutzten Eindringlinge zusamt ihrem Kaiser zurück ins westliche Europa: durch turmhohen Schnee und demoralisierende Kälte. Etwas mehr als 100.000 Mann sollen die polnische Grenze lebend erreicht haben.

Hitler und die deutschen Invasoren von 1941 sammelten, zumal in den morastigen Übergangszeiten, ähnliche Erfahrungen. Auf seinen Winter konnte Russland unter Garantie zählen. Kein Wunder, dass es in Russlands Literatur von mehr bis minder ehrfürchtigen Hommagen an "Väterchen Frost" (in Sowjetzeiten ein überaus honoriger Ersatzweihnachtsmann!) nur so wimmelt.

In Alexander Puschkins klassischer Erzählung Der Schneesturm (1831) bringt ein perfider Winterorkan einen Bräutigam buchstäblich vom rechten Weg ab. Der Soldat verpasst, von der Monotonie der Schneefläche in anhaltende Desorientierung versetzt, die eigene Hochzeit. In Lew Tolstois Herr und Knecht (1895) hetzt der Herr den sozial unter ihm Stehenden förmlich durch die unwirtliche Schneehölle: ein – für Tolstoi – willkommener Anlass zu innerer Einkehr und moralischer Läuterung.

Den einzigen tatsächlich rabenschwarzen Eintrag ins Verzeichnis der Winterliteratur verdanken wir Wladimir Sorokin. Sein kleiner Roman Der Schneesturm (2010) zeigt das Bild einer froststarrenden Wildnis, die unter Putins Zwangsherrschaft (der des "Gossudaren") steht und nicht nur vom Schnee in die Knie gezwungen wird. Der ewige Winter erscheint hier als Medium: als perfekte Metapher eines Landes im permanenten Ausnahmezustand.

Mutiertes Land

Russland ist bei Sorokin mutiert, Pferdchen, kaum größer als Erdhörnchen, ziehen einen Arzt im Schlitten ins endgültige Verderben. Erfrorene Riesen, nach Wodkakonsum verdämmert, säumen seinen Schneepfad. Auch das ist Russlands Winter: die Befürchtung, in ewiger Barbarei ausharren zu müssen. Und dabei an Herz und Gliedern zu erstarren. (Ronald Pohl, 16.11.2022)