Von einem demokratisch gewählten Gremium, in Geschlechterparität und unter Beteiligung indigener Gemeinschaften ausgearbeitet, ökologisch, feministisch, plurinational und sozial ausgerichtet sollte sie werden, Chiles neue Verfassung. Doch die Bevölkerung lehnte den Vorschlag in einem Referendum am 4. September 2022 ab: in allen 16 Regionen Chiles und mit 62 Prozent überraschend deutlich.

Verpasst wurde damit die historische Chance, das neoliberale Erbe der Diktatur unter Augusto Pinochet (1973–1990) abzuschütteln und die 1980 geschriebene, nicht demokratisch legitimierte Verfassung abzulösen. Denn die schreibt Chile als einen "subsidiären Staat" fest: Das bedeutet, dass der Markt alles regeln und der Staat nur im äußersten Notfall eingreifen soll. So wird eine Transformation zu einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat mit Garantien für den Zugang zu Bildung, Gesundheit, Renten und Wohnraum verhindert.

Für solche sozialen Forderungen und für ein Leben in Würde hatten ab Oktober 2019 jedoch Millionen von Menschen auf Chiles Straßen protestiert und damit den Weg für den verfassungsgebenden Prozess freigemacht. Im Oktober 2020 stimmten in einem Referendum 78 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Im Mai 2021 wurden überwiegend linke und parteiunabhängige Vertreterinnen und Vertreter in den Verfassungskonvent gewählt, dessen 154 Mitglieder bis Juli 2022 den Textvorschlag formulierten, über den nun abgestimmt wurde.

Die Ärmsten nicht erreicht

"Wir haben es nicht geschafft, die ärmsten Sektoren der Gesellschaft zu erreichen. Dabei hätten sie von den sozialen Rechten profitiert", sagt Manuela Royo, Sprecherin der Umweltschutzorganisation Modatima und Mitglied des Verfassungskonvents.

In den vergangenen Jahren hatten sich die sozialen Bewegungen auf die Benachteiligten gestützt, die Frauen, die Jüngeren und die Menschen, die in schwer umweltbelasteten Regionen, den sogenannten Opferzonen, leben.

Doch beim diesjährigen Referendum verschoben sich die Kräfteverhältnisse. Es herrschte Wahlpflicht. Die Wahlbeteiligung lag bei 86 Prozent, im Gegensatz zu 41 bis maximal 57 Prozent in den Vorjahren. Das Wahlverhalten derjenigen, die nie zuvor gewählt hatten, war schwer kalkulierbar, diese zu erreichen ein Problem. Progressive Kräfte stehen vor einem demokratischen Dilemma.

Straßenperformance mit Augenbandage. Bei Protesten 2019/2020 erlitten über 460 Personen Augenverletzungen.
Foto: AFP/MARTIN BERNETTI

Bei der Aufschlüsselung des Wahlverhaltens nach sozioökonomischem Status wird deutlich, dass die sozial schwächsten Gruppen am stärksten – mit bis zu 75 Prozent – gegen die Annahme der neuen Verfassung stimmten. Nach Einschätzung der Umweltaktivistin Royo hängt das mit Manipulation durch die professionell und finanzstark aufgezogene Medienkampagne gegen die neue Verfassung zusammen.

Desinformationskampagne: Im Netz kursierten unzählige gut gemachte Videos von rechten Organisationen und Thinktanks. Mit Falschaussagen und Verzerrungen wurden solidarische Systeme gesellschaftlicher Daseinsvorsorge diskreditiert und nationalistische Gefühle bei der Bevölkerung geschürt.

Verletzte Demonstranten.
Fotos: AFP/MARTIN BERNETTI/PABLO HIDALGO

Das Ziel dieser Desinformationskampagne sei es gewesen, "negative Emotionen hervorzurufen, Verwirrung und Angst zu schaffen", sagt der Kommunikationswissenschafter Marcelo Santos von der Universidad Diego Portales in Santiago.

Besonders wirkmächtig waren die Behauptungen, die neue Verfassung verbiete Privateigentum an Wohnraum, die Nationalflagge sowie die Hymne würden abgeschafft und das Prinzip der Plurinationalität vor allem im Hinblick auf die indigenen Gruppen werde Chile als Staat spalten.

Gegen die Medienmacht

Zwar konnten die Befürworterinnen und Befürworter der neuen Verfassung solche Falschaussagen widerlegen, indem sie auf Flyern und bei Kundgebungen Verfassungsartikel zitierten, in denen sowohl das Recht auf Eigentum als auch die Unteilbarkeit des chilenischen Staates garantiert wurden.

Sie hatten aber große Schwierigkeiten, über die ihnen zur Verfügung stehenden Medien die Menschen mit niedrigem Bildungsstand und wenig Interesse an politischen Diskussionen zu erreichen. "Sogar das staatliche Fernsehen TVN verweigerte dem Verfassungskonvent ein Bildungs- und Informationsprogramm, um breite Teile der Bevölkerung über Inhalte und Debatten im Zusammenhang mit der neuen Verfassung zu informieren", erklärt Alondra Carrillo, die Vertreterin der feministischen Dachorganisation CF8M im Verfassungskonvent.

Berittene Polizei in Santiago.
Foto: AP/Luis Hidalgo

"Wir sehen eine sehr hohe Eigentumskonzentration bei Radio, Fernsehen und allen Medien", so die Feministin. Über 75 Prozent der Wahlwerbung stammten aus dem Nein-Lager, allen voran von konservativen bzw. rechten Angehörigen der reichsten Familien Chiles.

"Die chilenische Presse hängt im Wesentlichen an vier großen Unternehmen", bestätigt der Journalist und Kommunikationswissenschafter von der Universidad de Santiago de Chile, Leonel Yáñez.

Er kritisiert jedoch zudem die Kommunikationsstrategie des Verfassungskonvents. Zwar wurden dessen Sitzungen im Internet übertragen, doch es sei schwer gewesen, den abstrakten Debatten zu folgen. "Die Mitglieder des Verfassungskonvents haben eine sehr technische Sprache verwendet, wie sie sonst von Politikerinnen und Politikern verwendet wird", so der Kommunikationswissenschafter.

Die Identifikation des Gremiums mit den in Chile generell eher skeptisch betrachteten politischen Parteien und Institutionen sowie mit der mit sinkenden Zustimmungswerten kämpfenden Regierung von Präsident Gabriel Boric sei ein weiterer Faktor für die Ablehnung der Arbeit des Verfassungskonvents.

Neben der politischen Rechten positionierten sich auch Teile der Christdemokratie und aus anderen im Zentrum zu verortenden Parteien gegen den aktuellen Verfassungsentwurf. Sie fanden sich unter dem Namen "Los Amarillos" (dt. "Die Gelben") zusammen und warben mit dem Slogan "Esa no" (dt. "Diese nicht", in Bezug auf die Verfassung).

Verhandlungen ziehen sich hin

Mit diesem Spektrum und dem Rechtsbündnis "Chile Vamos" verhandelt die durch den Ausgang des Referendums zusätzlich geschwächte linke Regierung von Präsident Boric nun über die Neuauflage eines verfassungsgebenden Prozesses. Dieser wäre zahmer, institutionalisierter und weniger bewegungsnah, es ginge sicherlich nicht mehr um die "Neugründung" Chiles als plurinationaler Staat. Zwar ist die Neuwahl eines geschlechterparitätisch besetzten Verfassungskonvents, bestehend aus Abgeordneten, geplant. Reservierte Sitze für Indigene und Wahlmöglichkeiten für Vertreterinnen und Vertreter sozialer Bewegungen sind aber nicht in Sicht. Ob die politische Rechte sich an ihre Zusage zu einem neuen Verfassungsprozess hält, ist unklar. Die Verhandlungen ziehen sich hin.

Eine inzwischen neu gegründete Koordination von sozialen Bewegungen mit mehr als 100 Organisationen will von außen weiter Einfluss auf den politischen Prozess nehmen. Vor allem wollen sie ihre Strategie im Bereich Medien und politische Bildung überdenken, erklärt Carrillo von der Organisation CF8M, die den ersten Verfassungsentwurf mitgestaltete.

In einer Erklärung der sozialen Bewegungen heißt es: "Kein Bedürfnis, keine Notwendigkeit, kein soziales Problem", das zu dem verfassungsgebenden Prozess geführt habe, sei mit der Entscheidung vom 4. September 2022 gelöst worden. (Ute Löhning, Südwind-Magazin, November/Dezember 2022)