Tom Kaulitz (Zweiter von links) und Zwillingsbruder Bill (Dritter von links) sind ein bisschen reifer und auf jeden Fall tätowierter geworden.

Foto: Sony

Kenner der Weltpresse werden es wissen: Zuletzt warf ein neckisch als Fischermann verkleidetes Mitglied der ehemaligen deutschen Teenie-Band Tokio Hotel die Angelrute aus, um mit einem monströsen Regenwurm am Haken einen eventuell noch größeren Fisch an Land zu ziehen. Dabei ahnte Tom Kaulitz nicht, dass hier der Köder den Jäger längst zur Beute gemacht hatte.

Tom Kaulitz nämlich wurde gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Bill, der zum selben Anlass Arielle die Meerjungfrau gab, schon vor Jahren von Heidi in die Ehe geklumt. Im körpergroßen, glitschig-ekeligen Regenwurmkostüm steckte während ihrer berüchtigten jährlichen Halloween-Party in New York also das immerjunge, quietschige und topdeutsche Supermodel Heidi Klum.

Im deutschen Privatfernsehen leitet sie seit einer gefühlten Ewigkeit ein Boot-Camp namens Germany's Next Top Model für auf dem Runway bezüglich Zucht und Ordnung verwahrloste Nachwuchs-Mannequins. Zwischendurch wird dann auch einmal mit Bill statt Ehemann Tom ein Totalschaden wie die Casting-Show Queen of Drags an die Wand gefahren. Hauptsache, man hat genügend Spielkameraden.

Planet Dominic Heinzl

Um aber auf die laut Albert Ayler "Healing Force of the Universe", also die Musik, zu kommen: Die Ehe von Tom Kaulitz mit Heidi Klum, in die er als Mitgift seinen Bruder Bill mitbrachte, rettete die Band Tokio Hotel 2019 zumindest im deutschen Raum aus den hinteren Rängen der Hitparaden hinüber in die Dauerpräsenz auf dem Planeten Dominic Heinzl. Der Weg von einer international erfolgreichen Teenie-Band ins Erwachsenenfach war noch niemals ein leichter. Nur wenige Acts gehen ihn zu Ende.

Tokio Hotel

Das neue Album von Tokio Hotel nennt sich 2001. In diesem Jahr machten sich einst vier Teenager von Sachsen-Anhalt aus auf, um die Welt zu erobern. Das führte ab 2005 mit dem Hit Durch den Monsun und über anfänglich kinderfreundliche Nachmittagskonzerte zu heute weit über zehn Millionen verkauften Tonträgern. Nach dem Durchbruch im deutschsprachigen Raum mit Schrei oder später mit Übers Ende der Welt wurden Sänger Bill dank seiner androgynen Manga-Comic-Erscheinung und sein eineiiger Zwillingsbruder Tom Kaulitz als knuddeliger Bärli-Rocker an der Gitarre auch international sehr erfolgreich vermarktet.

Es gibt bei Tokio Hotel auch noch einen Bassisten und einen Schlagzeuger. Die arbeiten allerdings schon immer im Hintergrund und müssen wegen lästiger Hardcore-Fans heute nicht in Los Angeles in der Villa Kunterbunt einer närrischen Model- und gewieften Geschäftsfrau leben. Sie können daheim in Berlin jederzeit zum Späti gehen und sich dort muckibudenfremde Sixpacks zulegen.

Enormer Leidensdruck

Vor allem in Frankreich, Kanada und Südamerika punkten Tokio Hotel seit Jahren mit englischsprachigem Pop. Der hat sich 2022 von seinen Anfängen im Emo-Rock längst hin zu luftigem, immer ein wenig aseptischem Synthie- und Schmusepop entwickelt. Man kann dem neuen Album eine gewisse, heute offenbar gefragte Blässe und Scheu vor kräftig vorgetragenen Alleinstellungsmerkmalen attestieren.

Tokio Hotel

Alles nur für den Fall, dass sich die als künstlerisch wertvoller geltende Konkurrenz ohne Teeniepop-Vergangenheit bemühen würde, ebenfalls forscher zu agieren: Wenn nicht der aus der Pubertät herübergerettete enorme Leidensdruck im Gesang von Bill Kaulitz wäre, der einst solidarisch mit seinen Hörerinnen den heftigen Weltschmerz ganzer Teenagerlegionen linderte, dann könnte man neue Lieder wie Bad Love, Berlin oder Happy People Make Me Sad heute auch unerkannt auf FM4 gleich nach coolen Erwachsenenbands wie Phoenix spielen.

Halt, Tokio Hotel sind mittlerweile zwar auch über 30 und quäken When We Were Younger mit Autotune. Als cool gehen die Kaulitz-Brüder aber definitiv nicht durch. Das ist angesichts einer jungen urbanen Mode, die heutzutage auf befremdlich geschmacklose Teile der Neunziger- und Nullerjahre aus dem Kleidercontainer setzt, fast schon wieder cool. Eine Neuauflage von Durch den Monsun hätten sie sich 2022 allerdings sparen können. (Christian Schachinger, 17.11.2022)