Der 22-jährige Angeklagte wartet vor dem Großen Schwurgerichtssaal im Landesgericht für Strafsachen Wien auf den Beginn seines Prozesses um versuchten Mord.

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Wien – Yas A. ist zwar als Angeklagter vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Christina Salzborn, Vizepräsidentin des Landesgerichts und dessen Pressesprecherin, sieht sich aber selbst als Opfer. Das geht beispielsweise aus diesem Dialog hervor: "Ja, ich habe natürlich die Nerven verloren. Aber ich wollte ihn nicht verletzen", behauptet der 22-Jährige. "Sie haben mehrmals mit einem Messer auf ihn eingestochen", hält Salzborn entgegen. "Ja, weil er mich geschlagen hat." – "Sie laufen mit einem Messer in der erhobenen Hand auf jemanden zu. Was glauben Sie, was der tun wird?" – "Ich dachte, dass er wegläuft." – "Sie wollten ihn erschrecken?" – "Ja."

Für das gleichaltrige Opfer endete der Vorfall am 12. Juli deutlich schlimmer als nur mit einem Schrecken. Er erhielt eine Stichwunde in die rechte Halsseite, wo eine Schlagader getroffen wurde, einen Stich von unten unterhalb der linken Achsel sowie einen Stich in den linken Brustkorb. Nur eine Notoperation rettete ihm das Leben, der Stich in den Hals sei, wenig überraschend, lebensgefährlich gewesen, erklärt der gerichtsmedizinische Sachverständige Nikolaus Klupp den Geschworenen. Das Opfer leidet noch immer unter Beeinträchtigungen, am Hals hat er eine rund 15 Zentimeter lange deutlich sichtbare wulstige Narbe.

Mordversuch versus absichtliche schwere Körperverletzung

Doch wie ist es zu der Attacke gekommen? Für Staatsanwältin Bettina Sommer ist klar, dass es sich um einen Mordversuch gehandelt hat. Die beiden Syrer seien seit eineinhalb Monaten gemeinsam in einem Deutschkurs gewesen, das Opfer wurde als besonders fleißiger Schüler gelobt. A. ist im Dezember 2021 nach vier Jahren in der Türkei nach Österreich gekommen. Er soll das Opfer mehrmals "Streber" genannt oder ihm vorgeworfen haben, er sei "hochnäsig". So auch am Tattag, worauf das Opfer antwortete, der Angeklagte sei einfach "faul" und mache deshalb weniger Fortschritte beim Spracherwerb.

Die Folge war ein Handgemenge zwischen den beiden, ehe sie von ihren Klassenkollegen getrennt wurde. Auf dem Heimweg nach dem Kurs seien der Angeklagte rund 100 Meter vor dem Opfer gegangen, als er sich umdrehte, sein Klappmesser mit einer Klingenlänge von sechs Zentimetern öffnete und zum Gegner lief.

Was dann passiert ist, ist die Frage, um die sich der Prozess dreht. Aus Sicht der Staatsanwältin habe der unbescholtene A. sofort zugestochen. Der Angeklagte und sein Verteidiger Andreas Reichenbach bestreiten das: Das Opfer habe A. zuerst einen Faustschlag gegen den Kopf versetzt, der Angeklagte habe sich nur gewehrt. Überhaupt habe das Opfer A. zuvor massiv provoziert: Nach dem ersten Gerangel habe das Opfer gefordert, man solle per Whatsapp kommunizieren, um das "wie unter Männern zu regeln". Dann habe das Opfer nicht seinen üblichen Nachhauseweg genommen, sondern sei A. nachgegangen. Und schließlich habe er A. dann auf der Straße durch Rufe provoziert. Verteidiger Reichenbach sieht "nicht einmal ansatzweise einen bedingten Mordvorsatz", es wäre auch nichts passiert, wenn sein Mandant "nicht bedauerlicherweise ein Messer in der Hand" gehabt hätte.

"Wenn du ein Mann bist"

"Was für Provokationen waren das denn?", interessiert Vorsitzende Salzborn. "Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich kann mich gut erinnern, dass er gerufen hat: 'Wenn du ein Mann bist, dreh dich um und komm her'", lässt der Angeklagte übersetzen. "Und Sie sind ein Mann und haben sich umgedreht", konstatiert Salzborn. Die aber weiter wissen will, was die Provokationen gewesen seien. Er könne sich nicht mehr erinnern, bedauert der Angeklagte.

A. gibt zu, "ausgerastet" zu sein, bestreitet aber eine Verletzungsabsicht vehement. "Ich wollte nie so weit gehen, ihn auch nur ansatzweise zu verletzen", erklärt er. "Warum haben Sie dann nicht einfach nur die Fäuste verwendet?", hinterfragt Salzborn die Waffenbenützung. "Ich wollte ihm nur Angst machen und ihn nie attackieren", bleibt der Angeklagte bei seiner Verteidigungslinie. "Und warum haben Sie ihm dann drei Stiche versetzt?", bohrt die Vorsitzende nach. "Ich habe nach seinem ersten Schlag die Fassung verloren."

Das Opfer bestreitet, A. geschlagen zu haben, die Aussagen der Mitschüler sind recht unterschiedlich. Manche wollen einen Faustkampf gesehen haben, andere nur einen Angriff des Angeklagten. Das Opfer sagt als Zeuge aus, die Forderung bezüglich der Whatsapp-Kommunikation sei im Sinne von "lass uns das klären" gemeint gewesen und nicht als Aufforderung zu einem Faustkampf. "Ich habe nie daran gedacht, mit ihm zu raufen. Das war eine Frustaussage", meint der Zeuge dann.

Angreifer größer und schwerer als Opfer

Der Zeuge entkräftet dann ein Argument der Verteidigung. Reichenbach hatte nämlich A. zugebilligt, dem Opfer körperlich unterlegen zu sein, daher habe er das Messer als Drohmittel zücken müssen. Wie sich herausstellt, ist das Opfer nicht nur sechs Zentimeter kleiner als der Angeklagte, sondern auch 15 Kilogramm leichter. Auf Bitten Salzborns zieht der junge Mann auch seine Jacke aus, imposante Muskelberge sind unter dem engen Pullover nicht zu erkennen.

Allerdings scheint auch klar, dass das Opfer eine falsche Erinnerung hat. Seiner Darstellung nach sei der erste Stich in den Hals gegangen, daraufhin sei er zu Boden gegangen und habe weitere zwei Stiche versetzt bekommen, ehe A. flüchtete. Alle Zeugen sagen aber aus, dass das Opfer zunächst noch blutend an der Wand lehnte und erst dann bat, ihn auf den Boden zu legen, da er müde sei. Einer der Zeugen sagt zur Auseinandersetzung dezidiert: "Es war beendet, nachdem das Blut gespritzt hat."

Salzborn beschließt, noch weitere Mitschüler als Zeugen zu laden, um den genauen Ablauf des Angriffs ergründen zu können. Das Verfahren wird daher auf den 9. Jänner vertagt. (Michael Möseneder, 16.11.2022)