Joe Biden wollte mit seiner Stellungnahme (rechts im Bild) eine Eskalation vermeiden.

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Die ersten Konsultationen konnten gleich auf dem kurzen Dienstweg erledigt werden: Als am Dienstagabend die Meldungen über den Raketeneinschlag im ostpolnischen Przewodów weltweit die Runde machten, waren die Spitzen der meisten G20-Staaten, also der 19 führenden Industrie- und Schwellenländer sowie der EU, gerade auf der indonesischen Insel Bali versammelt.

Russland allerdings, dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine den Gipfel thematisch dominiert hatte, fehlte da bereits. Präsident Wladimir Putin war erst gar nicht angereist, sein Außenminister Sergej Lawrow hatte Bali schon vor Bekanntwerden der verstörenden Nachricht verlassen.

Viel gab es zunächst aber nicht einmal unter den anwesenden Staats- und Regierungschefs zu besprechen. In Bali ist es sieben Stunden später als in Mitteleuropa, und von dort tröpfelten zu nachtschlafender Zeit nur widersprüchliche Berichte ein. Was sich allerdings rasch abzeichnete, war der gemeinsame Versuch, die Lage nicht eskalieren zu lassen.

Keine voreiligen Schlüsse

Das Weiße Haus in Washington etwa, das über gute Informationskanäle aus Polen verfügt und mit US-Präsident Joe Biden auf Bali in engem Kontakt stand, signalisierte noch in der Nacht, dass es sich zu keinen voreiligen Schlüssen hinreißen lassen werde. Ob ein gezielter russischer Angriff, ein Irrläufer oder eine ukrainische Luftabwehrrakete für den Einschlag mit zwei Toten verantwortlich war, galt zu diesem Zeitpunkt noch als völlig offen. Washington erklärte daher, man müsse erst genauere Erkenntnisse einholen, bevor man über mögliche Reaktionen entscheide. Ähnlich zurückhaltend äußerten sich auch andere Staaten.

Mittlerweile geht auch die Nato vom Einschlag einer fehlgeleiteten ukrainischen Luftabwehrrakete aus. Doch an der von der Nato und den meisten G20-Staaten geteilten Einschätzung, dass Moskau die Verantwortung nicht einfach von sich weisen könne, änderte das nichts. Immerhin hatte Russland die Ukraine gerade am Dienstag mit einer besonders intensiven Welle von Raketenangriffen überzogen – auch im Westen des Landes, und das just während des Gipfeltreffens auf Bali.

Verurteilung des Kriegs

Vor diesem Hintergrund erschien die Tatsache, dass die G20 dort eine gemeinsame Abschlusserklärung annahmen, umso bemerkenswerter. In dem Papier verurteilen "die meisten Mitglieder den russischen Angriffskrieg in der Ukraine aufs Schärfste". Alle G20-Staaten, also auch Russland, einigten sich sogar auf eine Formulierung, die die negativen Auswirkungen des Krieges auf die Weltwirtschaft unterstreicht. Auch jener Satz, der den "Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen" für "unzulässig" erklärt, wurde von Moskau mitgetragen.

Unerwartete Einigkeit also? Ganz und gar nicht. Denn was die Verurteilung des Kriegs gegen die Ukraine an sich betrifft, so findet auch Russlands konträre Position Eingang in die Erklärung – und zwar mit der Formulierung, es gebe auch "andere Auffassungen und unterschiedliche Bewertungen der Lage". Unterm Strich bleibt ein Papier, das zwar den Willen erkennen lässt, keine weiteren Brücken abzubrechen, das aber im zentralen Punkt, nämlich der Einordnung des Krieges, nicht über den bekannten Minimalkonsens hinauskommt: "We agree to disagree" – wir einigen uns darauf, uns nicht zu einigen.

Gute Miene Richtung Heimat

Beobachter werten das Zustandekommen der Abschlusserklärung dennoch als Versuch Moskaus, auch gegenüber der heimischen Bevölkerung eine gewisse diplomatische Normalität zu suggerieren, bei der Russland – vermeintlich – nicht immer mehr in die internationale Isolation gerät. Denn auch Staaten wie China oder Indien würden Möglichkeiten suchen, zu Russland vorsichtig auf Distanz zu gehen, ohne Putin, von dem sie Gas, Öl oder Waffen beziehen, allzu offen zu verprellen.

"Der Grund ist vor allem die gemeinsame Sorge, dass der andauernde Krieg die Weltwirtschaft weiter belastet", heißt es etwa in deutschen Regierungskreisen. Auch das Gespräch von Joe Biden mit seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping im Vorfeld des Gipfels galt als Zeichen der Annäherung – und zwar an Russland vorbei.

Der Krieg gegen die Ukraine gilt in vielen anderen Bereichen, die auf dem G20-Gipfel in Bali zur Debatte standen, als Wachstumsbremse oder Fortschrittshindernis. So äußerten sich die Mitglieder etwa "tief besorgt" über die globale Ernährungskrise und setzen sich für eine Fortführung des von den Vereinten Nationen und der Türkei vermittelten Abkommens ein, das den Export von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer ermöglicht.

Klimaschutz in Bedrängnis

Auch die Bemühungen beim Klimaschutz sollen verstärkt werden. Immerhin sind die G20-Staaten für etwa 80 Prozent der Kohlendioxid-Emissionen weltweit verantwortlich. Nun will man Anstrengungen unternehmen, die Erderwärmung gemäß dem Pariser Klimaabkommen von 2015 auf 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau zu beschränken. Die Furcht vor Engpässen in der Energieversorgung wegen der Drosselung russischer Gaslieferungen hat jedoch eine aktive Klimapolitik in vielen Ländern zurückgedrängt. (ANALYSE: Gerald Schubert, 16.11.2022)