Rund 10.000 gehörlose Personen in Österreich gebärden so das Wort "Dolmetscher". Diese Aufgabe könnten künftig vermehrt digitale Avatare übernehmen – besonders bei Videos und Texten im Internet.

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Weltweit sind rund 70 Millionen Menschen gehörlos, 10.000 von ihnen leben schätzungsweise in Österreich. Ihre Muttersprache ist die Gebärdensprache, die sie von klein auf erwerben.

In der digitalen Welt stehen sie dadurch oft vor Hürden, denn viele hörbare Informationen sind hier nicht in Gebärdensprache übersetzt. Videos werden untertitelt, aber nicht von Gebärdensprache begleitet. Onlinetexte liegen nur auditiv oder schriftlich vor – ein Problem, das vielen nicht bewusst ist.

"Gehörlose haben in der Regel einen äußerst schwierigen Zugang zur Schriftsprache", sagt Georg Tschare, Geschäftsführer von Signtime, im STANDARD-Gespräch. "Sie ist eine abstrakte Form der Lautsprache. Wenn man die Lautsprache nicht hört, bleibt auch die Schriftsprache abstrakt." Digitale Inhalte nur zu untertiteln hilft gehörlosen Menschen deshalb nur bedingt weiter.

Avatare statt Menschen

Signtime hat deshalb vor zehn Jahren Simax entwickelt – eine Software, die digitale Videos oder Texte in die deutsche und österreichische Gebärdensprache übersetzt.

Das Ungewöhnliche: Die Übersetzung wird nicht von einem Menschen, sondern von einem digitalen, 3D-animierten Avatar gebärdet.

Simax scannt zunächst einen schriftlichen oder gesprochenen Text. Dann wählt die Software einzelne Gebärden aus einer intelligenten Datenbank aus und verbindet sie miteinander. Der virtuelle Avatar gibt die Übersetzung dann in Gebärdensprache wider.

Fünf gehörlose Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Signtime prüfen und korrigieren die Übersetzung, bevor sie in ein Video oder eine Website eingebaut wird. Fehlende Gebärden werden vom Team animiert und in die Datenbank gespielt.

Das Unternehmen setzt die Gebärdensprachavatare vielseitig ein. Sie übersetzen Image- und Erklärvideos, Filme oder TV-Sendungen. Auch für Museumsführungen oder digitale Beipackzettel für Medikamente eignen sie sich. Für Websites hat das Team eine spezielle Lesehilfe für Gehörlose entwickelt. Wählen Nutzerinnen und Nutzer mit Maus oder Finger einen Begriff aus, erscheint ein Video, in dem der digitale Avatar den Begriff in Gebärdensprache erklärt.

"Danke" – Avatare übersetzen digitale Videos oder Texte in die deutsche und österreichische Gebärdensprache.
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Manche Inhalte lassen sich schon komplett automatisch in die Gebärdensprache übersetzen. Signtime arbeitet mit den Wiener Linien derzeit daran, Störungsmeldungen in der U-Bahn automatisiert in Gebärdensprache zu übersetzen. Über die Wien-Mobil-App sollen die Videos der digitalen Avatare ausgespielt werden. So erfahren auch gehörlose Personen von Störungen oder Ausfällen. Nach der Testphase ist geplant, die Videos in den Regelbetrieb zu übernehmen. Laut Tschare bieten sich alle Standardisierten Inhalte für vollautomatische Übersetzungen an. Sogar Wetterberichte könnten von Avataren übersetzt werden.

Datenbasis fehlt

Fälle wie diese bilden aber die Ausnahme. Komplexe Texte und Videos vollautomatisch zu übersetzen, ist laut Tschare noch nicht möglich. Gleiches gilt für Live-Übersetzungen. Bisher gibt es noch zu wenig digitale Inhalte in der Gebärdensprache, mit denen man die Software füttern kann. Zudem muss das Team, obwohl Simax die Texte in Gebärden übersetzt, noch viel nachbearbeiten. Mimik oder Mundbewegungen, die wichtig für die Gebärdensprache sind, sind in der Gebärdendatenbank nicht enthalten und müssen dem Avatar manuell hinzugefügt werden.

In Österreich ist die Nachfrage nach Gebärdensprachavataren noch gering. Das liegt vor allem am rechtlichen Rahmen. Hierzulande wird von Websitebetreibern bisher nicht explizit gefordert, digitale Informationen in Gebärdensprache bereitzustellen. Sie sollen zwar barrierefrei sein, aber nur, wenn es technisch und finanziell möglich ist. "Das ist die Schwäche unseres Systems. Es entsteht kein unmittelbarer Druck, Informationen barrierefrei anzubieten", sagt Tschare.

In Deutschland etwa schreibt das Gesetz explizit vor, dass öffentliche Websites, die im Einfluss des Bundes stehen, Gebärdensprachvideos auf ihrer Startseite bereitstellen müssen. Eine ähnliche Lösung wäre auch für Österreich denkbar.

Inwieweit sich die Avatare durchsetzen, bleibt abzuwarten. Die Reaktionen auf die animierten Dolmetscher fallen bisher unterschiedlich aus. Manche gehörlose Personen verstehen die Avatare laut Tschare besser als Menschen, da sie immer gleich gebärden. Auch Verbände wie der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) sehen prinzipiell die Chance, dass digitale Avatare die Barrierefreiheit im Internet verbessern können. Sie stehen ihnen aber auch kritisch gegenüber.

Der ÖGLB sieht etwa die Gefahr, dass gehörlose Menschen in den Hintergrund rücken, wenn sie im Digitalen von Avataren repräsentiert werden. Grundsätzlich sehen sie digitale Avatare als Ergänzung, nicht als Ersatz.

Wenn digitale Avatare kostengünstiger übersetzen als ihre menschlichen Pendants, besteht laut dem ÖGLB die Gefahr, dass virtuelle Avatare die Arbeitsplätze von menschlichen Gebärdensprachdolmetscherinnen und Übersetzern gefährden könnten. Es werde immer Bereiche geben, in denen es menschliche Übersetzer braucht.

Fokus auf Masseninhalte

Tschare ist sich dieser Kritik durchaus bewusst. Durch vergangene Projekte weiß er, dass sich die Avatare freilich nicht für jede Situation eignen. In Ausstellungen oder Videos, die sensible Themen behandeln, kann der Cartoon-artige Avatar schnell deplatziert wirken.

Auch für andere Situationen eigne sich eine menschliche Übersetzung besser. "Ein Arztgespräch, bei dem der Arzt einem Patienten eine sehr ernste Diagnose vermittelt, würde ich nicht von einem Avatar übersetzen lassen", sagt Tschare.

Die Arbeit von Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetschern sieht Tschare nicht gefährdet. In Österreich gibt es rund 110 Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher, in Deutschland sind es weniger als 1000. Viele davon werden für Live-Übersetzungen gebraucht, sagt Tschare – in Schulen, auf Behörden, bei Gericht oder in medizinischen Einrichtungen.

Signtime zielt deshalb auf die Masse an digitalen Inhalten ab, die täglich im Internet landen. Um diese im großen Stil zu übersetzen und für gehörlose Menschen in Gebärdensprache zugänglich zu machen, reichen die vorhandenen Dolmetscher nicht aus, so Tschare. Es brauche deshalb technische Lösungen.

Er ist sicher: Irgendwann könnten Gebärdensprachavatare so alltäglich sein wie die Sprachassistenten Alexa oder Siri. (Florian Koch, 18.11.2022)