Verhalten und Aussehen der England-Anhänger vor dem Teamhotel und beim Fanmarsch in Doha irritierten viele – womöglich zu Unrecht.

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Merchandise darf bei der WM in Katar nicht fehlen.

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Südamerikanisches Treffen vor der Skyline von Doha.

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Katars Millionen holen sogar den King of Pop auf die Bühne. Mit Wanna Be Startin’ Somethin’ eröffnete der Michael-Jackson-Imitator Rodrigo Teaser seinen Auftritt in Dohas riesiger Fanzone. Da steckte viel Symbolik drin: Ja, Katar will hier etwas starten. Und ja, dafür wird viel Künstliches in Kauf genommen.

Dazu schienen Videos zu passen, die jüngst auf Katars Tiktok-Account veröffentlicht wurden: Fans von Argentinien, England oder Deutschland zogen singend und trommelnd durch die Stadt. Da es praktisch nur südasiatische Männer waren, schrieben viele Medien von "gekauften Fans". Vor allem der englische Boulevard vermutete wortreich, dass Katar seine ausgebeuteten Bauarbeiter nun als Fußballanhänger tarne, um Stimmung vorzutäuschen, auch auf Social Media ging es rund.

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Moment! Es gibt aus den Themenkomplexen Menschenrechte, Klima und Vergaberecht genug Gründe, diese WM zu verachten. Doch sie löst im globalen Westen auch Reflexe aus, die im Kern rassistisch sind. Derzeit: Die sind nicht weiß, die können keine England-Fans sein.

Andere Fußballkultur

Für in Europa Fußballsozialisierte wirkten die Fanparaden hölzern und orchestriert. Doch es gibt in anderen Weltregionen wie Kerala, dem südwestlichen indischen Bundesstaat, aus dem die größte Gastarbeitergruppe in Doha stammt, eben eine andere Fußballkultur. Da sich Indien nie für ein Großereignis qualifiziert, ist es dort völlig üblich, ein anderes Nationalteam zu unterstützen – und die dortigen Fanveranstaltungen sind der nun gefilmten nicht unähnlich.

Auch die am Rand der Märsche interviewten Fans der "Three Lions" erklärten die Genese ihrer Anhängerschaft sowie ihre Lieblingsspieler durchaus glaubwürdig: David Beckham, Michael Owen, Harry Kane. Nur das auf der Insel traditionsreiche Verachten des Teamchefs müssen sie noch lernen. Freilich könnten bezahlte Fans auch gebrieft sein – aber es gibt noch mehr Beweise für ihre Authentizität.

Dem Instagram-Profil von "argentinafanskerala_" folgen 201.000 Menschen, angesichts der geposteten Inhalte müssen das entweder Argentinien-Fans aus Kerala oder Menschen mit sehr seltsamen Online-Vorlieben sein. Anderes Beispiel: Die Hindi sprechenden "spainfansqatar" zählen immerhin 1465 Follower.

In dem Ankündigungsvideo der Parade blenden sie brav ihre Sponsoren ein, die Very-Low-Budget-Produktion wirkt nicht wie von langer Ölhand geplant. Es ist offenbar schlicht ein Zusammenschluss der zahlreichen, im Emirat mitunter sehr gut verdienenden Inder. Gut möglich, dass es in diesen selbstorganisierten Gruppen Verbindungsleute zum Weltverband Fifa gibt, das würde die einheitlichen Fanartikel und deutlich hochwertigeren Videos von der Parade erklären. Aber mit dem Vorwurf gekaufter Fans sollte man vorsichtig sein.

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Geld für Fans

Völlig aus der Luft gegriffen sind die Gedanken freilich nicht: Katar hat eine lange Geschichte bezahlter Fans, es gab sie bei der Handball-WM 2015 und bei Spielen der nationalen Fußballliga. Eigens für die WM wurden nun hunderte "Fan Leaders" engagiert, die im Austausch für Happy-peppy-Postings und sonstige Repräsentationsdienste Flüge und Tickets bekommen. Viele sind Expats in Katar, im September traf der STANDARD im Rahmen einer vom Wiener Journalismusinstitut fjum organisierten Recherchereise einige Fan-Leader. Einige spielten ihre Rolle dabei so übertrieben, dass es sogar den PR-Männern sichtlich unangenehm war.

Dass in Doha auch ohne Fifa-Münzen genug Menschen Fußballtrikots ausführen, war am Mittwochabend beim Test-Event für das Fanfestival offensichtlich. Zwei Hipster-Zidanes waren zu sehen, eine Heerschar an Messis, Ronaldos und Neymars, ein Harry Kane und ein Andreas Möller (kein Witz!). Marko Arnautovic, David Alaba oder auch Jürgen Patocka trug niemand auf dem Rücken.

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Disco, Disco, Party, Party

Die Party mit dem Westentaschen-MJ als Haupt-Act war die Generalprobe für die Fanzone in Doha, die das schon Tage vor der WM überlaufene Marktviertel entlasten soll. Auf 300.000 Quadratmetern sollen sich hier bis zu 40.000 Fans gleichzeitig die Spiele anschauen und zwischen 19 und ein Uhr Bier kaufen – oder wie man in Katar sagt: "international beverages". Sieht man sich an, wie flott manche nach bestandener Alterskontrolle ihr 13 Euro teures Bier runterkippen, kann man sich denken, was die obere Mittelschicht hier verdient. Offiziell sollte Alkohol nur in einer eigenen Zone konsumiert werden, beim Lokalaugenschein schien das egal zu sein.

Es ist nicht so, dass Katar seine Regeln neu schreiben muss. Die in Hotelbars lotterlebende Parallelwelt der Expats, in der sich durchaus auch Katarer tummeln, wird temporär ausgeweitet. Das wird wohl keine Auswüchse wie bei der WM 2018 zeitigen, als die russische Politikerin Tamara Pletniowa ihre Landsfrauen dazu aufrief, nicht mit farbigen Ausländern zu schlafen; aber nun können Frauen offenbar mit kurzen Röcken in Dohas halböffentlichem Raum tanzen.

Gerdine Lindhout, PR-Chefin der Fifa, beteuert für die Fanzone mitten in einem Land, das Homosexualität verbietet: "Fans, die öffentlich ihre Liebe für ihre Partner zeigen, kriegen keine Probleme! Benutzen Sie Ihren Hausverstand, aber beim Fanfestival ist nichts verboten." Auf die Probe gestellt hat dieses Versprechen bis dato noch niemand.

48 Stunden vor Beginn des Großereignisses wurde am Freitag die mit dem Weltverband vereinbarte Aufweichung des Alkoholverbots jedenfalls wieder gekippt. In und rund um alle Stadien ist Bier während der Spiele verboten. Das ist zwar ein weniger gravierendes Thema, doch der Alleingang irritiert.

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Grenze zur Gefährlichkeit

Das Fanfestival soll trotzdem eine Insel der Westlichkeit sein, jedenfalls ist es der Gipfel der Vermarktung: Menschen mit Minitrommeln in Hauptsponsor-Getränkedosen-Optik sehen sich das ausgestellte Hauptsponsoren-Auto an, während sie mit Hauptsponsor-Kreditkarte bezahltes Hauptsponsoren-Bier trinken.

Nicht alles beim Test-Event lief perfekt, vor der Sicherheitskontrolle entstanden trotz auf 20.000 Gäste begrenzter Kapazität Flaschenhälse an der Grenze zur Gefährlichkeit. Auf Schattenspender wurde in der Beton-Fanzone trotz Temperaturen bis zu 30 Grad verzichtet. Immerhin geht die Sonne um 16.45 Uhr unter, beim Test-Event schwitzten nur jene, die zu Michael Jackson tanzten. Apropos Smooth Criminal: Katar hatte sich bei der WM-Vergabe mit einer im Sommer geplanten Endrunde durchgesetzt. Man stelle sich die Fanzone mit knusprigen 50 Grad vor. (Martin Schauhuber aus Doha, 18.11.2022)