Demonstrantinnen beim Klimagipfel in Ägypten, die sich für höhere Loss-and-Damage-Zahlungen einsetzen.

AP / Peter Dejong

Es ist der große Zankapfel bei der aktuell noch laufenden Klimakonferenz in Sharm El-Sheikh: Wie viel Geld soll aus den reichen Industriestaaten des Globalen Nordens in die Staaten des Globalen Südens fließen, um sie im Kampf gegen die Klimakrise möglichst wirksam und gerecht zu unterstützen? Bereits 2009 sagten Industrieländer zu, einen noch zu schaffenden Green Climate Fund mit 100 Milliarden US-Dollar jährlich zu füllen. 2020 wurden allerdings nur rund 83 Milliarden mobilisiert.

Zuletzt wurden dabei die Stimmen aus dem Süden lauter, dass der Globale Norden nicht nur für aktuelle Maßnahmen und Folgekosten mehr zahlen sollte, sondern auch eine Abgeltung für die in den letzten eineinhalb Jahrhunderten angefallenen Treibhausgasemissionen zu leisten habe. Entsprechend wird bei der COP 27 in Ägypten aktuell besonders heftig um die Höhe der Ausgleichszahlungen gerungen – und wer alles in den Topf einzahlen soll.

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Österreichs Klimaministerin Leonore Gewessler will "die Forderung nach mehr Unterstützung für den Globalen Süden selbstverständlich unterstützen" und hat bereits vergangene Woche 50 Millionen Euro für Loss and Damage, wie die Klimaschäden im Fachjargon bezeichnet werden, zur Verfügung gestellt. Kritisch sieht Gewessler aber die Etablierung eines eigenen Fonds, wie ihn der Globale Süden verlangt.

Wissenschaftliche Einschätzungen

Was aber sagt die Wissenschaft dazu? Und was wäre unter dem Gesichtspunkt der Erreichung der Pariser Klimaziele günstig – und gerecht hinsichtlich der bisherigen Emissionen? Ein Team von Forscherinnen und Forschern vom Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien hat am Donnerstag im Fachblatt "Science" eine neue Studie dazu veröffentlicht und kommt auf sehr viel höhere Summen, die gerecht wären.

"Wir stellen fest, dass die von den Industrieländern an die Entwicklungsländer zugesagten 100 Milliarden US-Dollar für Klimaschutz und Anpassung nicht ausreichen, um die für die Erreichung des langfristigen Temperaturziels erforderlichen Finanzmittel in angemessener Weise zu mobilisieren", sagt Studienautor Keywan Riahi, Direktor des Energie-, Klima- und Umweltprogramms des IIASA und einer der meistzitierten Energie- und Klimaforscher weltweit: "Selbst unter den günstigsten Fairness-Annahmen für die reichen Länder müssen die globalen Finanzströme in die Entwicklungsländer auf 250 bis 550 Milliarden US-Dollar pro Jahr aufgestockt werden."

Frühere Arbeiten hätten sich auf faire globale Systeme zur Aufteilung des Kohlenstoffbudgets konzentriert, aber nur wenige konzentrieren sich auf Gerechtigkeitsüberlegungen bei der Finanzierung von Klimaschutzinvestitionen", erklärt IIASA-Gruppenleiterin Shonali Pachauri, die Tochter des 2020 verstorbenen ehemaligen IPCC-Vorsitzenden Rajendra Pachauri und Erstautorin der Studie.

"Habt ein Herz und tut etwas", fordert die 10-jährige ghanaische Klimaaktivistin Nakeeyat Dramani auf der COP27 bei einer Rede vor Delegierten und dem COP-Vorsitz im ägyptischen Sharm el Sheikh
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Zwei durchgerechnete Szenarien

Das internationale Team rund um die IIASA-Fachleute rechnete in seiner Untersuchung der Klima-Fairness zwei Szenarien durch: eines unter Berücksichtigung der geschätzten CO2-Emissionen durch Verbrennen fossiler Energieträger ab dem Jahr 1850, und ein anderes ab dem Jahr 1990. Die Forscherinnen und Forscher kommen im ersten Szenario ausgehend vom kaufkraftbereinigten Niveau des Jahres 2015 auf jährlich notwendige Geldflüsse vom Globalen Norden in Richtung Süden zwischen 248 Milliarden und knapp 1,6 Billionen Dollar im Zeitraum zwischen 2020 und 2030.

Etwas weniger breit wurde diese Spanne im zweiten Szenario. Da in dieser Epoche auch bereits viele Schwellen- und Entwicklungsländer ihren Ausstoß gesteigert haben, fällt die Rechnung unter diesen Bedingungen etwas günstiger für die Industriestaaten aus. Dementsprechend müssten vom Norden aber immer noch zwischen 250 und 570 Milliarden Dollar pro Jahr für Klimawandel-Eindämmungs-Maßnahmen in Richtung Süden fließen.

Aus diesem Befund heraus erscheine das aktuelle Versprechen der Industrieländer, den mitunter stark von den Klimawandel-Auswirkungen betroffenen Staaten jährlich 100 Milliarden Dollar zum Erreichen der Klimaziele von Paris zur Verfügung zu stellen, als "problematisch", heißt es in der Arbeit.

Demonstrantinnen bei der Klimakonferenz forderten diese Woche eine Erhöhung der Schadenersatzzahlungen.
AP / Peter Dejong

Eigens entwickeltes Online-Tool

Die IIASA-Fachleute haben zudem ein eigenes Online-Tool entwickelt, das Berechnungen auf Basis der Studie erlaubt. Sie wollen ihre Analyse als Beitrag zur Klimapolitik und zu Klimaverhandlungen verstanden wissen. Um den Finanzaustausch in einem derartigen Ausmaß sinnvoll zu organisieren, brauche es jedenfalls künftig klare institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen.

Ein weiteres Argument für höhere Ausgleichszahlungen an den Süden hat erst vor wenigen Tagen eine Studie geliefert, die ermittelte, dass durch Hitzewellen von 1992 bis 2013 fünf bis 29,3 Billionen Euro an wirtschaftlichem Schaden entstanden sind – und zwar vor allem in Ländern des globalen Südens. Dort haben die Folgen des Klimawandels die stärksten Auswirkungen auf die Wirtschaft, während Länder im Norden rein wirtschaftlich zum Teil sogar von einem wärmeren Klima profitieren (siehe Grafik).

Auswirkungen der Hitzewellen auf das Wirtschaftswachstum. Die Länder in heißen Regionen leider auch ökonomisch besonders stark unter den Folgen des Klimawandels.
Grafik: Callahan & Mankin 2022, Scientific Reports 2022

Investitionen in neue Technologien

Abseits von etwaigen Ausgleichszahlungen wurden in den Jahren 2019 und 2020 geschätzt jeweils rund 630 Milliarden Dollar in Aktivitäten investiert, die mit dem Versuch der Eindämmung des Temperaturanstieges in Zusammenhang stehen. Im aktuellsten Bericht des Weltklimarats (IPCC) hieß es, dass sich diese Investitionen bis zum Jahr 2030 vervielfachen müssten, um die gefährlichsten Auswirkungen des Klimawandels in Zaum zu halten. Die Mittel dafür seien angesichts geschätzter 2,4 Billionen Dollar jährlich, die in die weltweiten Energiesysteme fließen, jedenfalls da.

Einige Technologien, die den Ausstoß verringern könnten, befänden sich gerade in den Startlöchern und könnten ausgebaut werden. Auch dafür sollten Klimaausgleichszahlungen dienen, sagt der Ko-Autor Christoph Bertram: "Wenn wir diese neuen Technologien in der für die Klimaziele erforderlichen Geschwindigkeit anwenden wollen, müssen wir sicherstellen, dass sie auch in ärmeren Regionen der Welt in großem Umfang eingesetzt werden." (tasch, 17.11.2022)