Sich mit Handke ganz entspannt in die Kiste legen, davon hat der Autor Manfred Rebhandl nie geträumt. Bis er im Lesehotel zu Gast war.

Foto: Hallstatt Hideaway Mountain Lesehotel

Die Woche davor war ich wieder in The Walking Dead hineingekippt, ich hatte drei Jahre lang nicht geschaut, nun war mir fad, und ich wollte Blut und Beuschel sehen. Irgendwie schaffte ich es bis zur zehnten Staffel, die unglaubliche 22 Folgen hat. Bei "Here’s Negan" dachte ich, der Schwachsinn wäre nun endlich zu Ende, aber da kam schon wieder der Button "Next Episode". Ich brauchte dringend mal Ruhe.

In Bad Goisern gibt es ein Lesehotel, nein: das Lesehotel, das einzige in Österreich und vielleicht sogar weltweit, das sich nicht dem Trend YOLO verschrieben hat oder den SUV-Proleten in ihren Trainingsanzügen und Badeschlapfen. Fun-Fact: Obwohl ich mit den Biermösel-Krimis vier Bücher geschrieben habe, die genau dort spielen, war ich noch nie in der Gegend. Ich hatte daher keine Ahnung, dass zwischen Bad Aussee und Bad Goisern der Pötschenpass liegt, über den ich mit dem Schienenersatzverkehr anreiste.

Angenehme Stille

Zuvor war ich bei meiner Mutter in Oberösterreich zu Besuch gewesen. Sie kam mir auf der Straße zum Bahnhof entgegen, so, als hätte sie mich erwartet, was sie aber nicht tat, denn sie ist dement. Gemeinsam gingen wir zurück zum Haus, in dem sie allein lebt. Meine Mutter hat mich zur Welt gebracht und als Kind an der Hand genommen. Nun nahm ich sie, die immer mehr zum Kind wird, an der Hand, und als ein Auto vorbeifuhr und uns sah, dachte ich kurz: Das ist jetzt schräg. Aber wie schräg ist es erst, sich dafür zu schämen, dass man seine Mutter an der Hand nimmt?

Meine Mutter kann nun nicht mehr lesen, und ich habe es lange nicht mehr getan, jedenfalls nicht richtig. Im Lesehotel angekommen, muss man als Erstes die Schuhe ausziehen und latscht dann in Schlapfen herum. Diese Regel hat etwas Wohltuendes in Zeiten, wo sich niemand an irgendetwas halten will. Und die leise Sohle verstärkt nur die angenehme Ruhe, ja Stille.

Die Suhrkamp-Gletschersuite

Ich hatte die Suhrkamp-Gletschersuite unterm Dach mit Blick auf den Dachstein – falls man einen Blick darauf hat! – gebucht, insgesamt 20 bestens ausgestattete Zimmer tragen jeweils den Namen eines Verlages, der sie mit Neuerscheinungen bestückt. Suhrkamp ist der Verlag des Geistes, der Großschriftsteller und Großphilosophen. Die 26 Quadratmeter Raumfläche sind der Größe des Verlages angemessen, das Kingsize-Bett punktet mit einem Daunenunterbett, der Balkon mit Panoramafenster, durch das man ihn betritt, und die Leselampe mit dem Vorteil, sie fokussieren zu können. Gleich am frühen Nachmittag lege ich mich in die Kiste, draußen regnet es. Lasset die Lesetage beginnen!

Das erste Buch, nach dem ich greife, ist von Dieter Sperl, heißt An so viele wie mich, Traumnotizen, und ist im Ritterverlag erschienen. Hm. Not exactly Suhrkamp, aber was soll’s! Das Sortiment im Hotel mischt sich, in den Gängen und Räumen stehen tausende Bücher herum. Der erste Satz ist von Joy-Division-Sänger Ian Curtis und nimmt mich ein, aber dann geht es los: "... woraus langsam Zungenküsse erwachen." Aber "erwachsen" sie nicht vielmehr? "Das Fahrrad besaß kein Licht ..." Wie kann ein Fahrrad etwas besitzen? Bin ich sonst auch so beckmesserisch, frage ich mich, oder fällt einem am Ende doch auf, wenn ein Text nicht Suhrkamp-tauglich ist? Immerhin war der Autor in einem Traum mit Peter Handke gefangen, was mich auf die richtige Spur lenkt.

Verlorene Leichtigkeit

Lange habe ich kein Buch mehr an einem Abend weggelesen.
Foto: Hallstatt Hideaway Mountain Lesehotel

In seinem Versuch über die Jukebox lässt der Meister eine Losverkäuferin durch das Gedränge einer Markthalle im spanischen Burgos zigeunern, was man ihm heute gewiss untersagen würde – aber was würde er darauf antworten? Unterwegs liest der Erzähler die Charaktere des Theophrast, von dem ich noch nie gehört habe, und er kennt den 1984 erschienen Complete Identification Guide to the Wurlitzer Jukeboxes von Rick Botts, der heute nicht einmal mehr im Internet verfügbar ist.

Handke beschreibt Jugendliche in einem Bus, die ihre Kassetten nach vorne zum Fahrer bringen, der diese dann einlegt und spielt, "statt des nachmittäglichen Radioprogramms". "Zu Ende ging das Jahr 1989", schreibt er, "da in Europa von Tag zu Tag und Land zu Land so vieles, und so wunderbar leicht, anders zu werden schien ..." Und heute, 33 Jahre später, geht uns gerade wieder genau diese Leichtigkeit verloren. Andererseits hätte ich nicht gedacht, dass ich – beim Wiederlesen – mit Handke mal so entspannt in der Kiste liegen würde. Ich mag ihn, und ich mag es hier. Beim Abendessen – "Hühnerspießchen sehr sehr gut!" würde Adalbert Stifter sagen – greife ich zu Petra Ramsauers beeindruckendem Buch Angst, in dem sie aus ihrem Leben als Krisenreporterin berichtet, danach kurz zu einem Wanderführer, der eine Route über den Fleischbanksattel zum Großen Priel beschreibt. Fleischbanksattel? Geht’s da ums Hosentürl?, frage ich mich.

Kaiser und Fake News

Ich blättere in Napoleon schläft mit Mona Lisa. Die ganze Wahrheit über den Kaiser der Fake News. "Essen", beschied darin die Mutter ihrem Sohnemann, "dient alleine dem Zweck, nicht zu verhungern." Den wunderbaren Streuselkuchen krieg ich da schon kaum mehr runter, aber von Büchern habe ich heute noch lange nicht genug.

Mit vollem Pantzen schleppe ich mich vorbei an Büchern, Büchern, Büchern in den dritten Stock zurück in meine Suite, dort muss ich dann mal. Am Klo liegt Eine Frau von Annie Ernaux, ich schlage es auf: "Wenn man sagt, daß der Widerspruch nicht denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz" steht da zu Beginn ein Satz von Hegel. Auch nach längerem Nachdenken komme ich nicht dahinter, was das heißen soll, Hegelianer werde ich wohl nicht mehr werden.

Ruhe befördert den Lesefluss

Ernaux aber lässt mich heute nicht mehr los. Auch ihre Mutter war vor dem Tod dement geworden, davor war sie "eine kräftige Blondine mit dem größten Stolz und der größten Wut", und Bücher waren "die einzigen Dinge, mit denen sie behutsam umging". So ist’s recht! Auch Ernaux musste sich anhören: "Wozu war das gut, dass sie jahrelang in diesem Zustand gelebt hat?", so wie ich mich manchmal fragen lassen muss, warum wir unsere Mutter nicht ins Heim geben. Ernaux rasierte ihr "die Wagen und das Kinn", so wie ich es am Nachmittag noch bei meiner getan habe, sie hat mich gelobt dafür, so wie sie mich neuerdings fürs Rasenmähen lobt: "Was du alles kannst!"

Lange habe ich kein Buch mehr an einem Abend weggelesen, wie Elke Heidenreich das nennt. Kann einen große Literatur am Ende glücklich machen? Draußen und herinnen ist es vollkommen still, Ruhe befördert den Lesefluss. Um ein Uhr früh schmökere ich noch im Georgischen Album von Andrej Bitow: "Ich erblickte die Berge am Horizont von Mineralnyje Wody ..." Es gibt Ortsnamen, die mich vom Klang her faszinieren, so wie Nowaja Semlja auch oder Kolyma, viele liegen in Russland.

Ein guter Mix

Manfred Rebhandl, geb. 1966, ist Krimi-Autor und Zeitungsreporter, u. a. für den Standard. Er lebt in Wien.
Foto: Peter Bittermann

"Wahrhaftig nur in Russland kann man Heimweh empfinden, ohne das Land zu verlassen", beschreibt Bitow ein Land, das uns heute so abweisend erscheint, das aber, glaubt man der Literatur, eines der schönsten überhaupt sein muss, mit wunderbaren Menschen. Nur der Depperte lässt sie halt nicht. "Sie queren einen Fluss, über den das frische Wasser über das rostige Gerippe eines verunglückten Autos gleitet", lese ich noch mit müden Augen und denke an die mindestens 20 weißen Holzkreuze an der Strecke über den Pötschenpass, die der zahlreichen Unfallopfer gedenken. So schlafe ich ein. Am Morgen beim Frühstück liegt Alexander Kluge auf meinem Tisch – Personen und Reden. Kluge ist gewiss sehr klug, aber gewiss auch einer, der schon fast zu viel schreibt. Zufällig entdecke ich das Gegenteil von ihm, Liliana Amon, genannt Bibiana. In Eine Spurensuche stellt Walter Schübler sie mir vor, samt ihrem einzigen Roman Barrières, den sie als Marie Amon veröffentliche. Sie war Verlobte von Anton Kuh, stand Schiele Modell, Musil und Werfel beschrieben sie in Romanen, später nahm sie zu viel Kokain. Geboren in Linz, tauchte sie als Teenager in das Leben der Metropole Wien ein, zum Ende der Monarchie.

Herrlich, wie die Menschen damals redeten: "Sie wissen doch, dass Sie hier ganz comme chez vous sind!" Oder: "Dem hätt ich schön was anschauen lassen, dem Hupf-ins-Bett, dem ausgschamten!" Ihrer Romanheldin werden "schlamperte Augen und zu viel Mehlspeisphlegma" nachgesagt, also etwas breitere Hüften. Sie liest Der Idiot, was bei ihr zu "Nervenfieber" führt, so aufregend kann Lesen sein. Ich verbringe mit Bibiana den Samstag im Bett, bis in den Nachmittag hinein ist das Geräusch einer Kreissäge zu hören, das Geräusch des Herbstes.

Abwechslung muss sein

Zwischendurch greife ich zu Andrea Camilleris Italienische Verhältnisse und lese über die italienische Bürokratie, die eine Herrschaftsform sei wie die Demokratie. Na ja. Egon Erwin Kisch, Das Lied von Jaburek: In Prag bestellten die besonders Coolen "Retten", was die Abkürzung für Zigaretten war, und Kisch formuliert immer so: "Man schlägt dem modernen Verkehrswesen ein Schnippchen und die Logik aufs Haupt". Na ja. In Die Trapp-Familie. Die wahre Geschichte hinter dem Welterfolg erfahre ich, dass Georg von Trapp im Ionischen Meer den französischen Panzerkreuzer Léon Gambetta versenkte, lange vor The Sound of Music. Ich blättere in Baugrube von Andrej Platonow, wieder ein Russe: "Bürger!", ruft man dort in der Bierhalle. "Sie haben für das Getränk bezahlt, nicht für das Lokal!" Während später Amons Heldin im Café Cetral vom Ober schief angeschaut wird, weil sie nur eine Melange bestellt, zehn Stunden dasitzt und immer wieder Wasser nachverlangt.

Zum Schluss nehme ich noch den Chef selbst in die Hand: Siegfried Unseld – Ein Leben in Texten und Bildern. Der Sohn sagt darin dem Suhrkamp-Patriarchen, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Als er sie noch hatte, schrieb er am 10. August 1965 an Handke, dass er sich entschieden habe, die Hornissen herauszubringen, "aber manch umständliche Formulierung muss zuvor eliminiert werden". Thomas Bernhard kriegte 500 DM Vorschuss auf Frost. Im Krieg (im Zweiten Weltkrieg!) schwamm Unseld vor Sewastopol ins Schwarze Meer hinaus, um sich zu retten, sehr sportlich. Es ist Samstag, 23 Uhr, ich bin müde und brauche mal Abwechslung vom vielen Lesen. Zeit, mir das ZDF-Sportstudio anzuschauen.

Manfred Rebhandls Leseliste

  • Dieter Sperl: "An so viele wie mich. Traumnotizen", Ritterverlag
  • Peter Handke: "Versuch über die Jukebox", Suhrkamp
  • Stefan Schlögl, Wolfgang Hartl: "Napoleon schläft mit Mona Lisa. Die ganze Wahrheit
    über den Kaiser der Fake News", Edition 5Haus
  • Andrej Bitow: "Georgisches Tagebuch", Suhrkamp
  • Alexander Kluge: "Personen und Reden", Suhrkamp
  • Walter Amon: "Bibiana Amon. Eine Spurensuche", Edition Atelier
  • Andrea Camilleri: "Italienische Verhältnisse", Wagenbach
  • Egon Erwin Kisch: "Das Lied von Jaburek. Prager Reportagen", Wagenbach
  • Gerhard Jelinek, Birgit Mosser, "Die Trapp-Familie", Molden
  • "Siegfried Unseld – Sein Leben in Texten und Bildern", Suhrkamp

(Manfred Rebhandl, 19.11.2022)