Andrej Kurkow möchte seine Romane weiterhin auf Russisch schreiben, denn in diesem Krieg gehe es nicht um die Sprache, so der Autor.

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Raketeneinschläge wecken Andrej Kurkow am 24. Februar 2022 aus dem Schlaf. An diesem und den folgenden Tagen schreibt er keine einzige Zeile. Lange Autoschlangen bilden sich auf Kyjiws Straßen, auch Kurkow flieht mit seiner Familie Richtung Westen.

Sein Tagebuch einer Invasion beginnt aber schon Wochen davor, zu Jahresende 2021. Von Krieg ist noch nicht die Rede, und doch ist die Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen plötzlich Gesprächsthema. Anfang Jänner werden in Kyjiw 5000 Bombenkeller und sämtliche Alarmsirenen gewartet. Die Bevölkerung bleibt gelassen – nicht weil sie die Lage falsch einschätzt, sondern weil sie sich schließlich im achten Jahr des Krieges mit Russland befindet.

Schon damals, 2014, hat Kurkow in seinem Ukrainischen Tagebuch die Freiheitsbewegung in seiner Heimat festgehalten und wie sehr die Ukraine russischem Großmachtstreben ausgeliefert sei – das hat man in Europa nur beharrlich nicht zur Kenntnis genommen. Man werde nicht warten, bekundet der ukrainische Präsident in seiner Silvesterrede, dass die Welt die Probleme der Ukraine löse. "Ich persönlich", schreibt Kurkow, "warte aber darauf und rechne sogar damit."

Gebete für den Frieden

Einen Tag vor Kriegsbeginn ist die Anspannung dann deutlich spürbar: "Es herrschte fast vollkommenes Schweigen", so notiert Kurkow einen Kaffeehausbesuch, in den Kirchen des Landes wird derweil für den Frieden gebetet. Zu Hause klingelt ununterbrochen das Telefon, Bekannte verabschieden sich, sie würden nach Polen flüchten. Ein Screenshot von einer russischen Website macht die Runde, wonach das wichtigste Militärkrankenhaus in Moskau 45.000 Leichensäcke in Auftrag gegeben habe. Ein Freund, der sich mit dem öffentlichen Beschaffungssystem in Russland auskennt, schreibt Kurkow, dass in Wahrheit bereits hunderttausende Leichensäcke auf Vorrat liegen.

Wenige Stunden später, um fünf Uhr früh, schlagen die ersten Raketen ein, ungeachtet dessen fährt die U-Bahn, die diplomatischen Beziehungen zu Russland werden abgebrochen. Und Kurkow bricht seine Aufzeichnungen ab, die er erst ab 1. März wieder fortsetzt. In der Westukraine, aus sicherer Distanz, verfolgt er die Zerstörungen und das Entstehen einer moralischen Trennungslinie: "Warum bombardieren sie Kinderkrankenhäuser und Schulen? Warum zerstören sie die Wohngebiete (…)? Warum bombardieren sie Bäckereien und Brotläden?" Am 9. März schreibt er: "Dieser Krieg wird einen eisernen Vorhang zwischen Ukrainern und Russen ziehen, der viele Jahre lang bestehen wird."

Andrej Kurkow, "Tagebuch einer Invasion". Aus dem Englischen von Rebecca DeWald. € 19,90 / 352 Seiten. Haymon-Verlag, Innsbruck/Wien 2022.
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Europäische Orientierung

Aber wird es je wieder ein halbwegs normales Verhältnis zwischen Russen und Ukrainern geben? Seit dem 24. Februar schreiben viele russischsprachige Intellektuelle auf Ukrainisch, russischsprachige Bücher sind plötzlich verpönt. Doch: "In diesem Krieg", schreibt Kurkow, "geht es nicht um die russische Sprache, die ich mein ganzes Leben lang gesprochen und in der ich seit jeher geschrieben habe." Er selbst, der sich als "ethnischer Russe" bezeichnet und in Kyjiw zu Hause fühlt, ist das beste Beispiel.

Ein Widerspruch ist das nie gewesen, und es ist ja nicht in erster Linie die Sprache, die die Ukrainer von den Russen trennt, im Gegenteil, die meisten der zivilen Opfer in den großen Städten im Osten sind Russischsprechende. Es hat vielmehr mit Selbstbehauptung und europäischer Orientierung zu tun, und damit, dass die Ukrainer, wie Kurkow schreibt, auf Glück programmiert sind – damit ist in diesem Krieg das Überleben gemeint, der militärische Sieg, denn die Freiheit sei den Ukrainern schon immer "wichtiger als Gold" gewesen. Somit steht auch für Kurkow von Anfang an fest: "Die Ukraine selbst wird nicht sterben! Die Ukraine wird überleben, wieder aufgebaut werden und über den Krieg hinwegkommen, sich aber jahrhundertelang an ihn erinnern."

Reflexive Chronik und historischer Kriminalroman

Kurkows Tagebuch, das bis zum 11. Juli 2022 reicht, ist eine reflexive Chronik, in der sich Tagesgeschehen und Essayistisches vermischen, bis hin zur leidenschaftlichen Betrachtung eines Landes, das nicht um seine Identität (denn deren ist es sich bewusst!), sondern um sein Überleben als unabhängiger Staat und freie Gesellschaft kämpft. Umso mehr ist die Aufgabe des Schriftstellers im Krieg das Wort, gleich in welcher Sprache. Und die Sprache, bekennt Kurkow, ist das einzige noch Russische in ihm.

In einem ORF-Interview meinte er kürzlich (auf Deutsch!), dass er seine Romane weiterhin auf Russisch schreiben werde, Non-Fiction und Kinderbücher aber auf Ukrainisch. Sein Tagebuch der Invasion wurde übrigens aus dem Englischen übersetzt. Fast zeitgleich mit dem Tagebuch erschien auch der Roman Samson und Nadjeschda, den man vor einem Jahr noch bloß als historischen Kriminalroman gelesen haben würde. Als solchen hat ihn Kurkow auch angelegt, und als solcher wurde er in der Ukraine, als er 2020 erschien, auch rezipiert, ohne Notwendigkeit, einen Gegenwartsbezug herzustellen.

Andrej Kurkow, "Samson und Nadjeschda". Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. € 24,70 / 376 Seiten. Diogenes-Verlag, Zürich 2022.
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Gewaltsame Russifizierung

Doch nun hat der Roman eine erstaunliche Aktualität bekommen, und man hat unweigerlich Putins Krieg vor Augen, wenn man von der Einnahme Kyjiws durch die Bolschewiki im Frühjahr 1919 und der Etablierung der neuen sowjetischen Ordnung liest. Auch damals ist es eine russische Einverleibung, die Lage in der Stadt ist unsicher, immer wieder kommt es zu Stromabschaltungen, wenn dem städtischen Heizwerk das Holz ausgeht. Heute sind es gezielte russische Angriffe auf die Energieversorgung und die gewaltsame Russifizierung in den besetzten Gebieten. Nicht anders 1919, als dem Traum von der Unabhängigkeit ein brutales Ende bereitet wurde und die Sowjetisierung der Ukraine begann.

Vor diesem Hintergrund politischer Umwälzungen kann, ja muss man nun auch Kurkows ansonsten unpolitischen, fast zu beschaulich verlaufenden Roman lesen, er erhält geradezu eine gespenstische Dramatik, obwohl die Menschen in diesem Roman sich allzu leicht ihrem Schicksal ergeben, indifferent bleiben, als wüssten sie längst, dass man sich gegen den Lauf der Zeit nicht wehren kann.

Weg durch politische Fronten

Eine Alltagsmelancholie liegt über dem Kyjiw von damals, Rotarmisten und Banditen beherrschen die Stadt, dazwischen so gewöhnliche Menschen wie Samson und Nadjeschda, die sich ihren Weg durch die politischen Fronten suchen, zwischen Anpassung und innerer Emigration.

Samson erfährt in diesen Tagen des Umsturzes den tiefsten Einschnitt in seinem Leben. Er hat gerade Mutter und Schwester verloren, als er und sein Vater auf der Straße von einem Kosaken angegriffen werden. Dem Vater wird dabei der Schädel gespalten, Samson hat Glück, der Säbelhieb des Kosaken trennt ihm lediglich sein linkes Ohr ab. Das bewahrt er nun in einer Bonbondose im Schreibtisch seines Vaters auf und kann damit sogar hören, auch wenn er ganz woanders ist. Eine Fähigkeit, die ihm bei seinem ersten Fall als Kriminalbeamter gerade recht kommt.

Falltür aus der Wirklichkeit

Und dann tritt noch die junge Nadjeschda in sein Leben, die dem etwas unbedarften Helden Halt gibt, denn nach der Ablösung der "alten Macht" ist auf irritierende Weise alles neu: Der "neue Mensch" wird propagiert, der Sowjetmensch, der nur zur Kenntnis nehmen muss, dass "er sich nicht mehr selbst gehört". Anders als im realen Kriegstagebuch schildert Kurkow in einem gelassenen, manchmal kafkaesken, fast verklärend-märchenhaften Ton, als gäbe es in dieser Geschichte irgendwo eine Falltür aus der Wirklichkeit. So bleibt alles auf sehr angenehme Weise in Schwebe. "Ende", heißt es am Schluss. "Aber Fortsetzung folgt." Auf die darf der Leser ebenso gespannt warten wie auf ein weiteres Tagebuch. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 21.11.2022)