Klimaschutz aus dem Geist der Schüttaktion: Aktivist der "Letzten Generation", 2022 festgeklebt an einem römischen Bankgebäude.

Foto: Reuters / Remo Casilli

Den Kampf um die Deutungshoheit gewinnt, wer allgegenwärtig ist. Nicht von ungefähr gehört die Bewusstseinsindustrie unserer Tage den Unternehmungslustigen. Aktivistinnen unterschiedlichster Herkunft – die meisten von ihnen moralaffin, wandlungssüchtig und umweltbewegt – bestimmen die Kultur des Ungehorsams. Die angstgeweiteten Augen zumeist aufs globale Erwärmungsgeschehen gerichtet, piesacken diese Angehörigen einer "letzten Generation" alle Vertreter des Immer-weiter-so, und zwar bis aufs Blut.

Aktivisten kleben Gesäß und Extremitäten auf Autobahnzubringer. Sie gießen Substanzen auf schutzbeglaste Gemälde und reißen in Bronze gegossene Sklavenhändler vom Sockel. Längst halten, wie berichtet, Museumsbedienstete Erste-Hilfe-Koffer parat, um ihre vulnerablen Ausstellungsstücke nach erfolgtem Anschlag erstversorgen zu können.

Die Tätigkeit des Aktivismus ist eine allseitige. Unter dem Banner des Fortschritts versammeln sich Kunst-Aktivisten, sogenannte "Artivisten", aber auch Tierschützer, Datenschützer, Heimatschützer, ganz zu schweigen von Greenpeace oder Fridays for Future. Zur Spezies der unentwegt Aktiven gehören Vergnügungsaktivisten und Angehörige der "Strickguerilla". Letztere "umgarnen" Pfähle und Poller, um auf ebenso spektakuläre wie textile Art ihr Unbehagen an der Kultur auszudrücken.

Aktivismus verdankt sich der Einsicht, dass es gerade die moderne Menschheit ist, die sich so etwas wie Untätigkeit nicht mehr leisten kann. Das Schlagwort Aktivismus führte wohl erstmals Carl von Ossietzky im Mund. Der nachmalige Friedensnobelpreisträger votierte im März 1918 für eine dringende "Abkehr von intellektuellem Chinesentume". Gemeint waren schnöde Dienstfertigkeit und geistige Passivität.

Moral der Aktivität

Ossietzky und andere Propheten des Neubeginns standen unter dem Eindruck moralischen Totalbankrotts. Die sinnlosen Massenschlächtereien des Ersten Weltkriegs weckten ein unbändiges Bedürfnis nach Umkehr und Neubeginn. Man trat für einen "Tempelbau" ein, "groß genug, ganze Völker zu umfassen". Die "Moral der Aktivität" (Kurt Hiller) bildete einen Imperativ. Sie rief von Anfang an Tugendwächter auf den Plan.

In ihrem Namen echauffierten sich Propagandisten der Tat und deklarierten sich als Lebensreformer. Im Narrensaum des Aktivismus fand sich aber auch Platz für Dadaisten, Surrealisten und andere Kunst-Avantgardistinnen. In ihren auf Krawall gebürsteten Verlautbarungen und Revuen klapperte das moralische Mühlrad im Leerlauf dahin. Prompt stand Spießbürgern vor Staunen der Mund offen.

Alle Aktivisten eint bis heute die Empfindung, dass der Mensch ein "progresspflichtiges Wesen" sei. Aktivistische Kollektive wühlen mit Vorliebe im Praxiskoffer der schönen Künste. Sie nähren sich redlich von utopischen Überschüssen, die ein Wandel durch Ästhetik verheißt. Jüngere Vertreter nennen sich "Bad Beuys Go Africa", "Radikale Töchter" oder "Zentrum für politische Schönheit" (ZPS). Ins Werk setzen wollen sie alle "die höchste Form aller Künste: gute und schöne Politik". Am Zusammenschluss beider Sphären scheiterte zuletzt die indonesische Ruangrupa auf der Documenta in Kassel.

Fraktionen solcher Gutgesinnter legen sich, wenn sie der Hafer sticht, sogar mit Spitzenvertretern der AfD an. Sie errichten symbolische Plastiken oder agitieren im Netz ("Clicktivism"). Am besten gefällt, was verlässlich Aufmerksamkeit erregt. Andere reden vom bevorstehenden Gang in den Untergrund. "Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF", raunte unlängst Frankfurts Parade-Aktivist Tadzio Müller.

Ihre ehrbaren Anliegen unterlegen Aktivisten oftmals mit homerischem Gelächter. Doch seit der Aktionismus gegen Sachmittel immer öfter die Schwelle der Kunsttempel überwindet, droht die Stimmung zu kippen. Die Bürgertugend des "Troublemaking" zieht plötzlich sogar Sympathisanten den letzten Nerv.

Sprung ins Unbekannte

Die "Wohlgesinnten", als welche viele Aktivistinnen sich empfinden, bekommen jetzt die Moralpredigten der Etablierten zu hören, ganz so wie ihre Ahnen, die 1968er. Als ob ziviler Ungehorsam nicht seit jeher von der unbedingten Bereitschaft gelebt hätte, Regeln bei Bedarf zu brechen. Diese Eigenschaft eint den Aktivismus des 21. Jahrhunderts mit seinen Vorläufern von vor hundert Jahren. US-Autorin Rebecca Solnit hat die dazugehörige Losung ausgegeben: "Der Aktivismus ist kein Gang zum Eckgeschäft, er ist ein Sprung ins Unbekannte." (Ronald Pohl, 19.11.2022)