Sophia Hunger rät der Politik zu mehr Gesprächsbereitschaft gegenüber den Aktivisten.
Foto: Martina Sander

Sie klettern auf das Brandenburger Tor, kleben sich auf Straßen und in Museen fest – Klimaaktivisten der Letzten Generation sind in Deutschland vor allem in der Hauptstadt sehr umtriebig.

Die Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) möchte die Aktivisten nach illegalen Protestaktionen nun länger als die bisher möglichen 48 Stunden festhalten. Dafür müsste aber erst das Gesetz im Abgeordnetenhaus geändert werden. Davon unbeeindruckt zeigt sich die Bewegung, sie will weiter protestieren.

STANDARD: Die Letzte Generation bewirft Gemälde mit Kartoffelbrei und Tomatensuppe, in Wien floss Öl über ein Bild von Gustav Klimt. War diese Entwicklung auch für Sie als Protestforscherin überraschend?

Hunger: Das hatte ich konkret so auch nicht erwartet. Aber man kennt symbolische Sachbeschädigung natürlich aus der Protestforschung, so etwas hat es in modernen Demokratien immer gegeben.

STANDARD: Können Sie diese Aktionen nachvollziehen?

Hunger: Die Aktivistinnen und Aktivisten wollen damit ja auf etwas hinweisen: Warum schützen wir Kulturschätze, aber nicht unsere Umwelt? Und wenn die Natur kaputtgeht, wird es auch keine Kulturschätze mehr geben. Das ist eigentlich ein smartes Narrativ.

STANDARD: Das sehen viele nicht so, zumal Lebensmittel im Spiel sind.

Hunger: Klar, sie könnten auch Farbe nehmen. Aber es geht auch um den Hinweis auf die Verschwendung von Lebensmitteln. Es ist schade, dass das in der Debatte kaum aufgegriffen wird.

STANDARD: Warum gibt es diese Proteste gerade jetzt?

Hunger: Sie finden einerseits rund um den Klimagipfel in Ägypten statt. Und es gibt in Deutschland eine gewisse Resignation. Zwar hat Fridays for Future Millionen Menschen zum Protest auf der Straße gehabt. Aber dann kamen Corona und der Ukraine-Krieg, die Mobilisierung wurde schwieriger. Und nach einem Jahr Ampelregierung hat sich kaum etwas getan beim Klimaschutz.

STANDARD: Angesichts der Aktionen der Letzten Generation gehen die Forderungen aber eher unter.

Hunger: Dabei sind die superzahm: Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen, Neun-Euro-Ticket für den Nahverkehr, ein Gesetz zum Retten von Essen. Das unterschreiben nicht nur viele Grüne, dahinter steht ein Großteil der Bevölkerung.

STANDARD: Aber läuft nicht etwas schief, wenn die Protestierenden vor allem Empörung ernten?

Hunger: Sie sind in einem Aktivistendilemma gefangen: Entweder man hat die Masse oder Protestformen, die für Aufmerksamkeit sorgen. Wenn man so konfrontativ ist, dann kann das entweder einen negativen oder einen positiven Effekt haben.

STANDARD: Was wäre der positive?

Hunger: Zwar wird die Letzte Generation als zu radikal angesehen. Aber man redet über den Protest, und dadurch bekommt die gemäßigtere Bewegung von Fridays for Future wieder mehr Aufmerksamkeit.

STANDARD: Im Moment dominiert aber die Aufregung über die Letzte Generation.

Hunger: Mich hat die Reaktion der Politik überrascht. Okay, dass die Union für härtere Strafen eintritt, war klar. Aber es gab auch Kritik aus der Ampelkoalition. Erstens gibt unser Strafrecht jetzt schon Möglichkeiten für Sanktionen her. Und viele Grüne haben sich früher auch an Schienen gekettet. Ziviler Ungehorsam war immer Teil eines gesunden Protests in Demokratien. Aber was legitim ist, wird oft erst retrospektiv entschieden.

STANDARD: Woran denken Sie da?

Hunger: Zum Beispiel an die Suffragetten, die sich in den USA und Großbritannien Anfang des 20. Jahrhunderts für das Frauenwahlrecht einsetzten. Sie zerstörten Schaufenster, was damals viele nicht gut fanden. Heute sind wir froh über ihr Engagement.

STANDARD: Eines Tages könnte man also der Letzten Generation auch dankbar sein?

Hunger: Das kann sein. Protest kann nicht immer nur brav sein, ziviler Ungehorsam muss nerven und braucht Aufmerksamkeit. Denken Sie an die afroamerikanische US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks, die im Bus sitzen blieb und sich weigerte, für einen weißen Fahrgast den Platz zu räumen. Oder an Mahatma Gandhi mit dem Salzmarsch.

STANDARD: Dieser Protest war gewaltfrei. Wo liegt die Grenze?

Hunger: Das ist ganz klar, es darf keine Gewalt angewandt werden. In der Umweltbewegung gibt es ja auch radikalere Kräfte, die auch über eine Sabotage der Infrastruktur nachdenken. Das wäre ebenfalls nicht tolerierbar.

STANDARD: Die CSU in Bayern erinnert bereits an die Linksterroristen der Roten Armee Fraktion und warnt vor einer "Klima-RAF". Zu Recht?

Hunger: Das ist absoluter Unsinn. Die RAF hat Menschen umgebracht. Das kann man nun wirklich nicht vergleichen. Ich würde der Politik raten, lieber den Dialog mit der Letzten Generation zu suchen. Die ist ja gesprächsbereit. (Birgit Baumann, 20.11.2022)

Aktivistinnen beschmieren Gemälde, um auf den Klimanotstand aufmerksam zu machen. Was kann Kunst als Protestmittel leisten und wie weit soll Aktivismus gehen? Wir haben mit den Aktivistinnen, Künstlerinnen und Albertina-Chef Klaus Albrecht Schröder gesprochen.
DER STANDARD