1972 wurde die Schaltsekunde eingeführt, bis 2035 soll es eine Alternative geben.

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Zuletzt passierte es vor knapp sechs Jahren: Am 31. Dezember 2016 folgte eine Sekunde nach 23:59:59 Uhr noch nicht der Jahreswechsel, sondern 23:59:60 Uhr. Erst eine Sekunde später begann 2017. Bemerkt haben das vermutlich die wenigsten, die Jetlag-Gefahr hielt sich auch eher in Grenzen. Für die Fachleute des Internationalen Dienstes für Erdrotation und Referenzsysteme (IERS) war es dagegen das Highlight des Jahres. Denn die koordinierte Weltzeit und die Sonnenzeit, die sich von der Rotation unserer Erde ableitet, waren außer Takt geraten. Um die Abweichung wieder auszugleichen, wurde auf Vorschlag der IERS eine Schaltsekunde eingefügt.

Vor genau 50 Jahren wurde dieser Kniff erstmals angewendet, 27-mal wurden uns bisher Extrasekunden beschert. Doch damit dürfte in absehbarer Zeit Schluss sein. Wie vergangene Woche auf der Generalkonferenz des Internationalen Büros für Maß und Gewicht (IBMG) in Paris entschieden wurde, soll die Schaltsekunde 2035 wieder abgeschafft werden. Die unregelmäßig verordnete Zusatzsekunde sorgt im digitalen Zeitalter nämlich zunehmend für Probleme.

Veränderliche Geschwindigkeit

Ein Tag auf unserem Planeten dauert bekanntlich 24 Stunden beziehungsweise 86.400 Sekunden. Das stimmt allerdings nicht ganz: Tatsächlich ist die Rotationsgeschwindigkeit der Erde nicht konstant. Auf lange Sicht nimmt sie stetig ab, das liegt vor allem an der Gezeitenkraft des Mondes. Die Erdentage werden also langfristig immer länger, in kürzeren Zeiträumen kommt es aber zu Abweichungen. So ging der 29. Juni 2022 als kürzester Tag seit 50 Jahren in die Geschichte ein.

In der lange Zeit gültigen Sekundendefinition als 86.400ster Teil eines mittleren Sonnentages schwankte die Dauer einer Sekunde daher, wenn auch minimal, von Tag zu Tag. In den 1960er-Jahren setzte man auf präzise Atomuhren zur Definition der Sekunde. Deren Präzision ist auch über lange Zeiträume ziemlich stabil. Doch um die sich langsam einbremsende Erdrotation mit den präzisen Uhren in Einklang zu bringen und eine wachsende Diskrepanz der Weltatomzeit von der astronomischen Zeit zu verhindern, brauchte es einen Trick: 1972 wurde die Schaltsekunde eingeführt – sobald die Abweichung zwischen Atomzeit und astronomischer Zeit 0,9 Sekunden beträgt, wird eine Extrasekunde eingebucht. Die Schaltsekunde hat aber in unserer hochtechnisierten Welt ihren Preis.

Riskante Extrasekunde

Für Satellitennavigationssysteme und Computernetzwerke, die eng miteinander verflochten sind, ist eine hochpräzise abgestimmte Zeitsteuerung essenziell. Schaltsekunden, deren Notwendigkeit aufgrund der komplexen Veränderung der Erdrotation nicht lange im Voraus eingeplant werden kann und üblicherweise erst ein halbes Jahr vor Einführung bekanntgegeben wird, sind dabei ein riskantes Ärgernis. Im schlimmsten Fall könnte es zu Synchronisationsproblemen oder gar Ausfällen globaler Systeme kommen, die etwa die Telekommunikation, Energieübertragung und Finanztransaktionen ermöglichen.

Seit Jahren wächst deshalb der Druck, die alle paar Jahre auftauchende Extrasekunde abzuschaffen. Auch in metrologischen Fachkreisen wird schon lange darüber debattiert, statt häufigeren Extrasekunden nur alle paar Jahrzehnte eine Schaltminute einzuführen. Am vergangenen Freitag wurde schließlich bei der Generalkonferenz des IBMG bei Paris über die weitere Vorgangsweise abgestimmt – und die Fortführung der Schaltsekunde mit großer Mehrheit abgelehnt.

Kommt jetzt die Schaltminute?

Wie die "New York Times" berichtete, stimmte Russland gegen die Resolution, weil das russische Satellitennavigationssystem Glonass die Extrasekunden berücksichtigt, im Gegensatz zu anderen Systemen wie dem US-amerikanischen GPS. Um Russland entgegenzukommen, soll ein Aus für die Schaltsekunde erst 2035 kommen. "Ab dann wird der Unterschied zwischen atomarer und astronomischer Zeit auf einen größeren Wert als eine Sekunde anwachsen dürfen", sagte Judah Levine vom US National Institute of Standards and Technology. "Dieser Wert muss noch festgelegt werden", sagte Levine, der von einer historischen Entscheidung sprach. Bis 2035 sollen Vorschläge ausgearbeitet und zur Abstimmung vorgelegt werden.

Aus bürokratischer Sicht ist die Schaltsekunde aber noch nicht ganz am Ende, denn nun ist noch die Internationalen Fernmeldeunion (ITU) am Zug. Das Internationale Büro für Maß und Gewicht, das nun abgestimmt hat, ist zwar für die koordinierte Weltzeit (UTC) zuständig, für die Übertragung der Zeit jedoch die ITU. Sie wird 2023 in Dubai tagen und soll dort ebenfalls über die Schaltsekunde abstimmen. Verhandlungen zwischen den beiden Organisationen im Vorfeld deuten aber darauf hin, dass die Tage der Schaltsekunde tatsächlich gezählt sind. (David Rennert, 21.11.2022)