Der psychologische Blick aufs Bücherregal: Unsere ungelesenen Bücher zeigen uns die Person, die wir sein wollen.

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Manchmal, erzählt mir die Buchhändlerin, findet sie zu Hause nachts oder am Wochenende nicht das richtige Buch, dann radelt sie in die Buchhandlung und holt sich, was sie braucht. Wir alle, die wir keine Buchhandlung haben, müssen anders arbeiten. Mein Hang zur Vorratshaltung in Sachen Buchstaben ist mehreren Faktoren geschuldet. Buch-Twitter – "how I will miss it" – mit seinen ständigen Vorschlägen von leiwanden Autorinnen ist einer davon. Ständig gehen E-Mails an die Buchhändlerin raus, vor allem wochenends, und dass meistens wenig später eine zweite E-Mail mit dem Betreff "noch was" eintrudelt, ist man dort schon längst gewohnt. Die Lust am Lesen ist oft vorab am größten: Ich muss es haben, unbedingt, dieses eine Buch, sofort, und gleich lesen, morgen ist eigentlich schon viel zu spät, am besten wäre gleich. Kaum steht es da, ist die Dringlichkeit dahin. Es kann warten. Schneller als gedacht kommt der Moment, in dem die ungelesenen Bücher von der Lust zur Last werden, vorwurfsvoll brüllen sie "LIES MICH ENDLICH! VERGISS MICH NICHT!", und schon will man nicht mehr.

Investition in die Zukunft

Dann entdecke ich vergessene Autorinnen und muss natürlich sofort alles von ihnen haben, das ist eine Investition in die Zukunft, verstehen Sie doch, jetzt bekomme ich sie noch, das Porto ist höher als der Buchpreis, die herrlich müffelnde Ausgabe aus einer irischen Bibliothek, noch mit der letzten Liste mit den Menschen, die sie ausgeliehen haben, darin, aber in zehn Jahren – alles weg! Mit Sicherheit! Und keine Neuauflage in Sicht! Nein, ich nenne hier keine Namen, sonst räumen Sie statt mir die Onlineantiquariate leer. Diese Bücher brüllen dann weniger laut, ich freue mich, dass sie wieder eine Heimat haben, ebenso wie die, die Freundin Lena und ich aus den öffentlichen Bücherschränken fischen, weil die Erstbesitzerinnen der Romane von Vicki Baum, Colette, Benoîte Groult und Françoise Sagan offenbar gerade verblichen sind und die Erben nicht zu schätzen wissen, was hier im Regal stand, mit den hübschen Covern der 1960er- und 1970er-Jahre.

Bücher aussortieren?

Wer viele ungelesene Bücher hat, hat – wenig überraschend – natürlich auch viele gelesene Bücher zu Hause. Und wer die ungelesenen Bücher ernst nimmt, muss – es sei denn, man besitzt eine eigene Bibliothek mit verschiebbarer Leiter (Lebensziel, dann, wenn ich das kleine Landschlösschen habe) – eine scheel beäugte Kulturtechnik erlernen: Bücher weggeben. Bei allen anderen Dingen soll man ausmisten und wird dafür gelobt, aber bei Büchern hat die Tätigkeit einen schlechten Ruf – völlig zu Unrecht, wie ich finde. Ich lieb’s. Selten habe ich so erleichtert geseufzt wie damals, als ich große Teile meiner Lektüre aus den 90er-Jahren aussortiert habe. Manches, bei dem ich nicht verantworten wollte, dass es noch einmal jemand liest, warf ich sogar – Frevel! – ins Altpapier. Ganz ehrlich, es war ein geiles Gefühl. Für den Rest hieß es: geordneter Abgang in den öffentlichen Bücherschrank, ganz ohne Reue. Dort dann Gelächter, weil andere Leserinnen und Leser offenbar gleichzeitig beschlossen haben, sich endgültig von denselben Autoren zu verabschieden.

Wer wir sein wollen

Eine Freundin hat mir erklärt, sie liebt die Ungelesenen, seit ihr jemand Folgendes erklärt hat: Unsere ungelesenen Bücher zeigen uns die Person, die wir sein wollen. Was für eine fantastische Metapher! Und seither miste ich noch radikaler aus: Bin ich diese Person noch, die diese Bücher gern gelesen hat? Nicht alles altert gut. Und: Ich bin ein anderer Mensch. Manche Bücher wachsen mit, verändern die Lesart mit jedem neuen Kontakt. Aber manche sind inzwischen einfach nur doof. Oder, wie man es beim Schlussmachen höflich sagt: Es liegt nicht an dir, es liegt an mir, ich habe mich verändert. Und, das Beruhigende: So gut wie jedes Buch ließe sich, sollte man es in 15 Jahren plötzlich doch vermissen, wieder aufstellen, notfalls antiquarisch. Also falls die Welt nicht untergeht.

Nun steht nurmehr im Regal, was mich glücklich macht, wenn ich es sehe. Weil es mich klüger gemacht hat, gerührt hat, gepackt hat, mich die Sprache und die Gedanken verzaubert und mitgerissen haben, in andere Welten eintauchen oder mich die eigene besser verstehen ließen. Die Bücher erzählen mir, wo ich sie besorgt habe, wer sie mir empfohlen hat. Wie mir die andere Buchhändlerin beim Weißwein gesagt hat: Da, nimm das Buch, ich schenk es dir, darin ist das ärgste Liebesgedicht der Welt (von der Mayröcker ist es, natürlich ist es von der Mayröcker).

Alles, was ich brauche

Und auch die Ungelesenen sind bereits Teil dieses Zaubers: Ich werde die Person sein, die sie alle gelesen hat – vermutlich werden auch ein paar von ihnen, womöglich nur angelesen, im offenen Bücherschrank landen, aber immerhin nicht im Altpapier. Seither blicke ich zärtlicher auf sie, freue mich über die riesige Auswahl, die ich habe, wenn mir am Wochenende das Buch zu früh ausgeht. Da stehen eben dann nicht nur zwei Bücher, sondern ein ganzes mögliches Jahr oder zwei an Büchern, Sachbüchern, Autobiografien, Romanen, Lyrik – ich habe alles hier, worauf ich Lust haben könnte.

Herrlich ist das, von einem Buch zu lesen, es schon gekauft zu haben und danach greifen zu können. Ich habe alles, was ich brauche, wollte ich vorhin gerade schreiben, dann ist mir allerdings eingefallen, dass ich natürlich gestern schon wieder zwei E-Mails an die Buchhändlerin geschrieben habe. Auch damit ich mit ihr einen Kaffee trinken muss beim Abholen.

Schrullen und Vorlieben

Für den Übergang vom ungelesenen zum gelesenen Buch habe ich inzwischen auch ein feierliches Ritual: Ich klebe mein hübsches Ex libris hinein, das mir die Malerfürstin gestaltet hat, eine lesende Nixe ist es, mit viel zu viel Schmuck. Dann ist das Buch angekommen – wenn ich weiß, ich will es behalten, noch einmal in die Hand nehmen.

Ich denke mir mein Bücherregal neu: Es ist ein atmendes, lebendes, sich bewegendes Universum, das sich stets verändert, so wie ich hat es Neigungen und Launen, Fachgebiete, Leidenschaften, Hobbys und Schrullen, geheime Vorlieben, Erinnerungen an früher, aber es weiß eben auch schon von der Zukunft, bekommt auch immer wieder neue Länder und Kontinente, und in ein paar Jahren schon wird es wieder anders sein, und ich freue mich darauf und bin gespannt auf die Person, die darin lesen wird. (Julia Pühringer, 21.11.2022)